: Geronnene Liebe zum Meer
CHILE Wer Chile besucht, kann vergnügliche Stunden in den Häusern Pablo Nerudas verbringen. Sie erzählen vom Leben des Dichters
■ Besichtigungen: Alle drei Häuser Pablo Nerudas kann man besichtigen. Das Haus La Chascona liegt im Künstlerviertel Bellavista in der chilenischen Hauptstadt Santiago und beherbergt den Sitz der Pablo-Neruda-Stiftung. La Sebastiana thront auf dem Hügel Florida, in der rund 130 Kilometer von Santiago entfernten Hafenstadt Valparaíso. Isla Negra befindet sich rund 120 Kilometer von Santiago entfernt am Meer. www.fundacionneruda.org/
■ Literatur: „Ich bekenne, ich habe gelebt“ (Memoiren); „Canto General“; „Elementare Oden“; Matilde Urrutia: „Mein Leben mit Pablo Neruda“
VON EVA VÖLPEL
Nerudas Auszug in die Welt“, sagt Darío Oses, Bibliothekar der Pablo-Neruda-Stiftung in Santiago de Chile, „ist metaphorisch versinnbildlicht im Meer.“ Chiles berühmtester Dichter musste 16 Jahre alt werden, bis er dieses Meer zum ersten Mal sah: aus der Isolation der ländlichen Kleinstadt Temuco, im regenreichen Süden Chiles, reiste er 1920 mit der Familie an die Küste.
Per Zug und Flussboot geht es aus der Region der chilenischen Urwälder und Berge nach Puerto Saavedra. Dort sieht der junge Neruda den gewaltigen Pazifischen Ozean, den der Humboldt-Strom in diesen Breiten auf eine schneidende Klarheit herunterkühlt, zum ersten Mal. „Das Meer wird zu einer der großen mythischen Leidenschaften der Poesie Nerudas, zusammen mit dem Wald des Südens. Dort rührt seine Dichtung her, eine Dichtung, die die Welt besingt“, sagt Oses.
Die Reise, vom Vater geplant, um den Sohn von der Poesie zu lösen, wird zur poetischen Initiation: Die Tiefe der Wälder in der Provinz hat Neruda durchstreift, die Begegnung mit dem offenen Meer gerät zum Aufbruch, zum letzten Impuls, der fehlte, um zu dichten und die Welt zu erobern. Es ist das Meer, das Neruda bald darauf in die Welt trägt. Per Schiff reist er 1927 zuerst nach Südostasien, wo er in verschiedenen Ländern als Konsul arbeitet, danach unter anderem nach Spanien und schließlich nach Schweden, wo er 1971 den Nobelpreis für Literatur entgegennimmt.
Das Element, das ihn in die Welt trägt und inspiriert, bannt Neruda in mannigfacher Gestalt in seine drei Häuser, am unmittelbarsten in Isla Negra. In dem kleinen Ort, 70 Kilometer südlich der Hafenstadt Valparaíso, kauft er sich 1939 ein altes Steinhaus an einem einsamen Strand, lässt es umbauen und neue Gebäude dazubauen. Über den Hang zum Strand wuchern heute die Mittagsblumen, Schwalbenschwärme schwirren durch die Luft, das Meer bricht sich rau an den Felsen. Innen gleicht das Haus einem Boot: Über eine enge Holztreppe gelangt man auf die Kapitänsbrücke, das lichte Schlafzimmer. Von dort aus blickte der Dichter mit seiner großen Liebe Matilde Urrutia auf den Pazifik, das Bett dabei so ausgerichtet, dass die Sonnenstrahlen die beiden einmal im Laufe des Tages umwanderten: Morgens fielen sie ihnen auf den Kopf, abends auf die Zehenspitzen. Auch in seinen anderen Häusern, in Santiago und in Valparaíso, thronte Neruda als Kapitän über den Dingen, Fernglas und Weltkugel an seiner Seite.
In der mythischen Hafenstadt Valparaíso schweifte sein Blick aus dem Haus, das auch von außen an einen Ozeantanker erinnert, dabei nicht nur hinunter auf die Bucht, sondern auch auf das bunte Häusermeer. „Valparaíso ist verschwiegen, gewunden, gekrümmt. Über die Hügel ergießt sich das Bettelvolk wie eine Kaskade“, schreibt Neruda.
Seine Refugien sind vollgestopft mit Schätzen, die er in der Welt zusammentrug oder von Freunden geschenkt bekam. Überall finden sich Meereskarten, Schiffsinterieur und, vor allem auf Isla Negra: Muscheln in allen Farben, Formen und Größen. Denn Neruda war auch ein passionierter Malakologe, der eine stattliche Sammlung von über 7.000 Muscheln zusammentrug und diese 1953 dem Archiv der Universität von Chile vermachte. Aber auch Kollektionen kleiner mexikanischer Teufelsfigürchen, von Schmetterlingen, Käfern oder Saiteninstrumenten, finden sich sowie bizarre Objekte, beispielsweise ein überdimensionierter, einzelner Herrenschuh und ein lebensgroßes Pferd. Es sind Reklamen der damaligen Geschäfte von Temuco, Zeugnisse einer noch nicht lang vergangenen Zeit, als nur wenige der Landbewohner Chiles lesen und schreiben konnten.
„Neruda sammelte keine große Kunst, ihn interessierten Dinge, die Menschen gebraucht haben, die Kontakt hatten mit der Geschichte, die er zu ergründen suchte“, sagt Oses.
Die Dinge treiben ihm zu, oder er sucht sie: Aus dem Ozean fischt Neruda seine Schreibtischplatte, Überrest eines gekenterten Schiffs. Als Bar, die in keinem der Häuser fehlen durfte und hinter der er nur sich duldete, um die illustren Gesellschaften aus chilenischen und ausländischen Künstlern und Intellektuellen zu bewirten, installierte er in Santiago das prachtvolle Exemplar eines alten Schiffs mit silbernen Fischwasserhähnen.
Warum diese Besessenheit, alles zu sammeln, was mit dem Ozean in Verbindung stand? „Ich glaube, Neruda hat sein Leben lang darum gerungen, sich das Meer zu erklären, das immer schon da war, aber letztlich nicht zu dechiffrieren ist. Über das Sammeln von Dingen, die aus dem Meer stammen, hat er versucht, es zumindest ein bisschen zu zähmen“, sagt Oses.
Neruda ist ein enzyklopädischer Dichter. Er erschafft das poetische Inventar Lateinamerikas, besingt seine Geschichte und Natur, so wie sein größtes Vorbild Walt Whitman die Natur Nordamerikas besang. „Aber Neruda schreibt auch über die Fischer, die Taucher, das maritime Licht oder die weiblichen Galionsfiguren, die er sammelte und die in sich die Geschichte des Ozeans tragen, über den sie gefahren sind“, sagt Oses.
Eine der jahrhundertealten Galionsfiguren, die Medusa, birgt einen Teil der Geschichte des Dichters, der schreibt, das Meer klinge wie das Geräusch der ewigen Schlachten der Menschheit. 1948 muss Neruda fliehen vor der Verfolgung des chilenischen Präsidenten Gabriel González Videla, der die kommunistische Partei verboten hatte, in die Neruda 1945 eingetreten war. Neruda hatte deswegen im Senat furiose Reden gegen Videla verfasst. Über ein Jahr taucht er in Chile unter, bis er, getarnt als Vogelkundler, auf dem Pferd die Anden nach Argentinien überqueren kann.
Auf seiner Odyssee durch die Häuser von Freunden oder fernen Bekannten, die ihm Unterschlupf gewähren, bekommt er eines Tages in Valparaíso zugetragen, ein Schiff werde abgewrackt. Ob sich eine Galionsfigur daran befinde, fragt er und setzt seine Freunde in Bewegung, die Medusa zu bergen. Später schreibt er: „Es waren turbulente Tage, meine Poesie durchstreifte die Straßen, was dem Unheilvollen nicht gefiel. Er wollte meinen Kopf. Die Operation [zur Erlangung der Medusa, d. Autorin] dirigierte ich aus der Finsternis. Erst hat uns die Gewalt getrennt, dann die Erde.“
Gewalt als Wegbegleiter
Gewalt begleitet Neruda auch in den Tod. Als am 11. September 1973 General Augusto Pinochet gegen die demokratisch gewählte Regierung von Nerudas Verbündetem Salvador Allende putscht, ist Neruda 69 Jahre alt und schwer krank. Militärs durchsuchen sein Haus in Isla Negra, verwüsten das in Santiago. Matilde Urrutia bringt Neruda in eine Klinik nach Santiago. Zwölf Tage danach stirbt er.
Die Häuser werden später in den Besitz einer Stiftung überführt. Sie sind zwar für den stetig größer werdenden Strom der Touristen herausgeputzt, aber vor allem in der Nebensaison Orte, die es zu entdecken lohnt.