Georgische Schriftstellerin über Krieg: "Die Leute sind gebrochen"
Die georgische Schriftstellerin Naira Gelaschwili beklagt das Leid der Menschen im Kaukasus und kritisiert die militärische Logik der Politik. Russland, so sagt sie, sei ein gefährlicher Nachbar.
taz: Frau Gelaschwili, wie würden Sie die derzeitige Situation in Georgien beschreiben?
Naira Gelaschwili: Es ist eine Katastrophe geschehen. Viele Opfer sind zu beklagen, die Natur, Tiere und Pflanzen, wurden vernichtet. 300 Hektar im Naturschutzgebiet Borjschomi brennen immer noch. Die Menschen, die nicht getötet wurden, sind geistig gestorben.
Was heißt das genau?
Angst, Leid und Schmerz haben die Menschen gebrochen. Für sie ist unbegreiflich, was geschehen ist. Besonders die Männer sind in ihrem Selbstverständnis tief erschüttert. Die russischen Truppen stehen in Georgien und sie können nichts dagegen tun.
Kam diese Entwicklung hin zu einem Krieg wirklich völlig unerwartet?
Für mich, meine Freunde und andere Gleichgesinnte nicht. Die permanente Militarisierung Georgiens und die militante, nationalistische Rhetorik unseres Präsidenten und unserer Regierung waren bereits erste Anzeichen dafür. In Richtung Friedenspolitik wurde in den letzten Jahren fast nichts unternommen. Friedensorganisationen und die Experten, die viel Erfahrung auf dem Gebiet einer friedlichen Konfliktlösung haben, waren überflüssig geworden. Niemand brauchte sie. Im Georgischen gibt es ein Sprichwort: Ein Blinder steht vor einer Mauer und kann sich nicht vorstellen, diese Mauer links oder rechts zu umgehen. Er ist fest davon überzeugt, dass es keinen Weg gibt. Das Gleiche tun unsere Politiker. Sie behaupten, die einzige Möglichkeit, Abchasien und Südossetien zurückzubekommen, ist der Einsatz von Gewalt. Andere Konzepte haben sie nicht.
Das heißt, dass die georgische Regierung bewusst auf diese Eskalation hingearbeitet hat?
Ich habe zwar zu den Politikern kein Vertrauen, kann ihnen aber nicht einfach ein Verbrechen dieser Größenordnung zuschreiben. Das ist für mich unvorstellbar. Doch auch, wenn es nur eine Schutzreaktion war und ein Versuch, die eigene Bevölkerung zu verteidigen, war diese Offensive ein großer Fehler.
Glauben Sie, dass Südossetien und Abchasien für Georgien jetzt verloren sind?
Ja, zumindest für die nächste Zeit. Für mich gibt es keine territoriale Integrität. Das ist kein heiliger Begriff. Für mich ist der Hauptwert die Würde und das Leben der Menschen. Gut, die Abchasen wollen nicht mehr mit den Georgiern zusammenleben. Für sie und die Südossetien scheint es vielverspechender, sich auf Russland zu orientieren. Aber soll man deswegen die beiden Völker ausrotten? Abchasien und Südossetien, das sind doch keine Territorien, wo Steine liegen. Dort leben Menschen. Unsere Bemühungen müssen dahin gehen, dass die Abchasen und Südosseten eines Tages selbst sagen, dass sie wieder mit den Georgiern zusammenleben wollen. Wenn die Georgier, Abchasen und Südosseten sagen, wir brauchen keine Friedenstruppen mehr, weil wir versöhnt sind, erst dann sind alle Probleme gelöst.
Das klingt im Moment wie eine Utopie. Was sind die Voraussetzungen dafür, einen solchen Prozess einzuleiten?
Zuerst muss sich Georgien wirtschaftlich entwickeln und friedlich werden. Georgien ist arm, und die Menschen laufen von hier weg. Warum sollten die Südosseten und Abchasen zurückwollen? Dafür gibt es jetzt doch überhaupt keinen Anreiz.
Könnte dieser Krieg Präsident Michail Saakaschwili das Amt kosten?
Das Schicksal Saakaschwilis ist unwichtig, jetzt geht es um das Volk. Die Welt muss uns helfen, dass die russischen Truppen das Land verlassen. Damit wir wenigstens die Menschen retten, die am Leben geblieben sind. Alles andere kommt danach.
Halten Sie den baldigen Abzug der russischen Truppen für realistisch?
Nicht wirklich. Russland hat Georgien und dem Westen den Fehdehandschuh hingeworfen. Die Botschaft lautet: Ihr könnt keinen Krieg mit uns beginnen, und auf alles andere pfeifen wir. Doch das war von georgischer Seite zu vermeiden. Die Rhetorik unserer Politiker war lange so antirussisch und undiplomatisch. Ständig wurde Russland beschimpft. Ich als einzelner Mensch kann mir so etwas erlauben. Seit dem Tschetschenienkrieg bin ich aus Protest nicht mehr nach Moskau gereist und habe auch weiter nicht vor, das zu tun. Doch wenn ich Präsidentin wäre, müsste ich meine Emotionen herunterschlucken und diplomatisch sprechen, weil ich mein Volk verteidigen muss.
Sie haben gesagt, dass Leute wie Sie, die sich in der Friedensarbeit engagiert haben, nicht gebraucht wurden. Könnte sich das durch den Krieg ändern?
Einzelne Menschen werden jetzt begreifen, dass Friedensarbeit wichtig ist. Jedoch in die Politik kommen solche Leute nicht. Dort sitzen diejenigen, die kein Verständnis für regionale Entwicklungen haben. Ich hingegen denke, dass wir uns zusammen mit allen unseren Nachbarvölkern entwickeln müssen.
Auch Russland ist Ihr Nachbar …
Ob uns das gefällt oder nicht, Russland ist eine Gegebenheit, und damit basta. Russland ist ein gefährlicher Nachbar. Damit haben wir reichlich Erfahrungen, zum Beispiel den Krieg in Tschetschenien und das, was wir in Abchasien erlebt haben. Je kleiner das Volk ist, desto klüger muss es sein. Jetzt müssen wir nach Wegen suchen, um gute Beziehungen zu Russland aufzubauen. Russland kann alles, das Land hat keine Bremse mehr. Und die Wunden, die Russland einem kleinen Nachbarn zufügen kann, kann die Nato nicht heilen. Gucken Sie sich die Landwirtschaft an. Die ist ruiniert, weil wir Russland als Markt verloren haben. Bisher hat kein Politiker die Schäden beziffert, die wir durch die russischen Wirtschaftssanktionen erlitten haben.
Was erwarten Sie von der georgischen Regierung?
Wenigstens jetzt müssen die Politiker ehrlich sein und die Politik transparent machen. Wir wissen doch überhaupt nicht, was gespielt wird und was hinter den Kulissen geschieht. Warum verlassen die Russen das Land nicht, was verlangen sie von uns? Alles ist unklar. Jetzt schweigen alle, niemand will Saakaschwili kritisieren. Sie sagen: Erst müssen die Russen das Land verlassen, und dann beginnen wir alles zu analysieren. Und was ist, wenn die Russen noch ein Jahr hier bleiben? Wir können doch nicht ein Jahr schweigen!
Nach Transparenz und einer kritischen Auseinandersetzung sieht es im Moment nicht aus.
Die Politiker haben das Volk schon lange in die Irre geführt. Wie schon Herder gesagt hat: Für die Politik ist der Mensch ein Mittel, aber für die Moral ein Ziel. Das stimmt leider bis heute. Jahrelang wurde im Fernsehen gepredigt, dass wir siegreich seien, ein tapferes Volk und alles erreichen könnten. Auch jetzt wird dieser Krieg im Fernsehen vollkommen ideologisiert. Unsere Niederlage wurde fast zu einem Sieg erklärt. Ich bin der Meinung: lieber Abchasien und Südossetien verlieren, als deswegen einen Krieg führen. Doch Menschen wie ich, die immer gegen Gewalt und die militärische Lösung von Konflikten waren, haben keine Möglichkeit, mit dem Volk zu sprechen. Im Fernsehen bekommen wir keine Möglichkeit, weil alle Sender Saakaschwili unterstehen. Und der gründet lieber patriotische Jugendgruppen, die ihm Beifall klatschen. Eine Art neuer Komsomol.
Wie wirkt sich dieser Konflikt auf den Kaukasus insgesamt aus?
Grausam. Schon jetzt ist es für uns gefährlich, in den Nordkaukasus zu reisen, und das wird jetzt noch schwieriger. Denn dort gibt es einige Völker, die die Osseten unterstützen. Kurzum: Die Kluft zwischen Georgien und dem Nordkaukasus wird sich weiter vertiefen. Dabei müsste die Mission Georgiens eigentlich sein, Zentrum einer gesamtkaukasischen Friedenspolitik zu werden.
Heißt das, dass auch Ihre Arbeit jetzt schwieriger wird?
Ja. Bis 2003, als die jetzige Regierung an die Macht gekommen ist, hatten sich unsere Beziehungen zu den Südosseten schon gut entwickelt. Wir konnten problemlos nach Zchinwali fahren, und die Osseten kamen täglich zu uns ins Kaukasische Haus. Nach einer Kurzoffensive von georgischer Seite 2004 war wieder alles kaputt und das ganze Vertrauen, das die Osseten zu uns gefasst hatten, verspielt. Alles, was wir bis dahin erreicht hatten, war zunichte gemacht. Jetzt, nach diesem Krieg, ist wirklich alles aus. Während dieser schrecklichen ersten Tage haben uns Osseten angerufen. Sie sagten: "Wir sitzen in dunklen Kellern, helft uns!" Doch wir konnten nichts tun. Ob wir noch einmal Vertrauen aufbauen können, weiß ich nicht. Ehrlich gesagt, ich habe kaum noch Hoffnung.
Sehen Sie Georgiens Platz im Westen und in der Nato?
Ich und meine Mitarbeiter treten für eine Vereinigung des Südkaukasus als neutrale Zone ein. Armenien, Georgien und Aserbaidschan sollen einen wirtschaftlichen und politischen Block bilden. Was Abchasien, Südossetien und Nagorny Karabach angeht, so sind diese Problem derzeit nicht lösbar. Deshalb sollte ein Moratorium verhängt werden, und das wenigstens für sieben Jahre. Diese Zeit sollte für einen Versöhnungsprozess und die Entwicklung der Wirtschaft genutzt werden. Schon vor dem Krieg haben vor allem Frauen beim Kaukasischen Haus einen Gesellschaftsrat gebildet. Dort treffen sich nicht nur Mitarbeiter des Hauses, sondern breitere Kreise, die unsere Ideen teilen. Wir haben eine eigene Konzeption für die regionale, politische und ökologische Entwicklung erarbeitet. Nun wollen wir dafür kämpfen, wenigstens eine Stunde pro Woche im Fernsehen zu bekommen, um unsere Ideen zu präsentieren und dieser nationalistischen Rhetorik etwas entgegenzusetzen.
Haben Sie einmal daran gedacht, in die Politik zu gehen?
Nein, das langweilt mich. Es ist wunderbar, Schriftstellerin zu sein. Und ich bin ein Mensch, der das sagt, was er denkt, und das ist in der Politik nicht möglich.
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