Georg Kreisler gestorben: Im Alter immer radikaler
Stets war Georg Kreisler ein Künstler, der mit Schiller sagte: Die Ästhetik wirkt mehr als Parolen. Das Publikum aber wollte den Sänger und Autor als Unterhalter.
Ich hatte als Verleger das Glück, Georg Kreisler kennenlernen zu dürfen. Der fast Neunzigjährige war so vital, dass man sich neben ihm alt vorkam. Nie habe ich einen anregenderen und angeregteren Autor getroffen. Und nur selten einen radikaleren: "Ich bin makaber, schauerlich, / doch andrerseits ganz nett / und mache auch, bedauerlich, / ein bisschen Kabarett. // Nehmt ihn nicht ernst! Er ist doch gut, / und er bemüht sich redlich. / Er ist ein Wiener und ein Jud, / zusammen ist das tödlich." Georg Kreisler war eine Ausnahmeerscheinung.
Seit rund zehn Jahren sah man Georg Kreisler in der Öffentlichkeit nicht mehr am Klavier. Am Klavier hatte man ihn zuvor rund fünfzig Jahre gesehen, als Interpreten seiner eigenen Lieder, und nie sah er beim Spielen auf die Tastatur. Doch dann zog er sich von seinem Instrument zurück. Warum?
"Ich setze mich nicht mehr ans Klavier und singe meine Lieder, aber nicht, weil ich das nicht könnte, sondern weil ich es falsch fände", sagte er. "Es passt einfach nicht zu einem alten Mann wie mir. Ich habe in meinen jüngeren Jahren öfter erlebt, wie alte Männer ihre Lieder noch selbst gesungen haben, und es hat mir jedes Mal missfallen. Bei einem Lied kommt es ja auch auf den Text an, und worüber soll ein alter Mann singen? Über die Liebe? Lächerlich! Über seine Träume? Wen interessiert das? Wenn er seine Träume sein ganzes Leben lang nicht verwirklichen konnte, soll er es bleiben lassen! Über Politik? Er hat doch keine Zukunft mehr. Über den Tod? Peinlich!"
Wieder auf Tour
Infolge dieser Entscheidung war es zunächst ruhiger um Kreisler geworden. Aber er blieb nicht untätig und wurde wieder erstaunlich präsent. 2009 publizierte er seine Autobiografie "Letzte Lieder", seine zweite Oper, "Das Aquarium oder die Stimme der Vernunft" wurde mit großem Erfolg uraufgeführt. Ein Jahr darauf veröffentlichte er den Gedichtband "Zufällig in San Francisco" und den Satireband "Anfänge", und ging - mit 88 Jahren! - noch einmal gemeinsam mit seiner Frau Barbara Peters auf eine große Lesetournee.
Die Stadt Bad Homburg verlieh ihm den Hölderlin-Preis für sein lyrisches Lebenswerk. In diesem Herbst erschienen die Bände "Wien: Die einzige Stadt der Welt, in der ich geboren bin" und die vollständig überarbeitete Neuausgabe seines Debütromans "Ein Prophet ohne Zukunft".
Georg Kreisler wurde, wie er selbst konstatierte, im Alter immer radikaler. "Wir leben in einer prärevolutionären Zeit", sagte er im August dieses Jahres auf einem Podium. "Ich glaube, dass wir auf einem Pulverfass sitzen." Das gefiel ihm.
Seit den sechziger Jahren tourte er durch den deutschsprachigen Raum, seit Ende der siebziger Jahre gemeinsam mit Barbara Peters. Die frühen Programme waren gekennzeichnet durch milden schwarzen Humor. "Schatz, das Wetter ist wunderschön / Da leid ichs net länger zu Haus / Heute muss man ins Grüne gehn / In den bunten Frühling hinaus / Jeder Bursch und sein Mädel / Mit einem Fresspaketerl / Sitzen heute im grünen Klee / Schatz, ich hab eine Idee / Schau, die Sonne ist warm und die Lüfte sind lau / Geh mer Tauben vergiften im Park!"
Die Bürde des Erfolgs
Das "Frühlingslied" von 1958 war sein größter Hit. Und die größte Bürde. Damals galt er als Kabarettist. Er litt darunter, denn ein Kabarettist kann nichts als Kabarett, Kreisler aber schrieb Gedichte, Stücke, Romane, Opern. Stets war er ein Künstler, der mit Schiller sagte: Ästhetik wirkt stärker als Parolen. Doch sein Publikum wollte nur unterhalten werden. Und wollte ihn nur als Unterhalter.
Georg Kreisler wurde 1922 in Wien geboren und musste bald lernen, ein Jude zu sein. 1938 emigrierte seine Familie in die USA. Er wurde, blutjung, in Hollywood tätig. Auf Vermittlung eines Verwandten kam er beim Film unter, arbeitete Charlie Chaplin zu und lernte Friedrich Hollaender kennen. Zwischenzeitlich kam er nach Deutschland.
Als Übersetzer nahm er an den Nürnberger Prozessen teil, erlebte etwa Julius Streicher, den der Verlust der Macht zu einem halbsenilen alten Teufel gemacht hatte. Zurück in den USA wurde Kreisler, der inzwischen Bürger der USA geworden war, zum perfekten Entertainer. Doch leider galten seine Lieder als anstößig.
Daher ging er zurück nach Europa, um neu anzufangen. In Wien feierte er mit seinen "Everblacks", wie er seine sinistren Chansons selbst nannte, große Erfolge. Doch bald schlug er einen schärferen Ton an. Dies verstörte weniger sein Publikum als vielmehr seine Auftraggeber in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auftragsstücke wurden nicht aufgeführt, erfolgreiche Inszenierungen urplötzlich abgesetzt, Radio- und Fernsehsendungen im letzten Augenblick abgesagt.
Und das Land Österreich, das sich mit Kreisler schmückte, kam nicht auf die Idee, dem Vertriebenen die Staatsbürgerschaft zurückzugeben. Kreisler verbat sich daher in den letzten Lebensjahren jede offizielle Ehrung vonseiten des Staates Österreich.
Am Dienstag starb er in Salzburg. Sein Lebenswerk ist unsterblich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten