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Archiv-Artikel

Genie für Freundschaft

DAS SCHLAGLOCH VON MICHAEL RUTSCHKY

In gewissen heiligen Büchern – Bibel, Koran, MEGA – ist unverrückbar die Wahrheit niedergelegt

Man spricht von Ideen, welche eine ganze Gesellschaft revolutionieren; man spricht damit nur die Tatsache aus, dass sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen entwickelt haben, dass mit der Auflösung der alten Lebensverhältnisse die Auflösung der alten Ideen gleichen Schritt hielt. Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (1848)

Es ging nach Süddeutschland, denn unsere alte Freundin O. war gestorben. Ein gemeiner Krebs hatte ihr innerhalb von zwei Jahren schmerzhaft den Garaus gemacht. Sie wurde nur 62 Jahre alt.

Eine gut gekleidete Gesellschaft versammelte sich zu der Trauerfeier, und wir hatten immer wieder zu rätseln. Die schön knittrige Dame dort, war das nicht die wilde Hummel, die es mit der sexuellen Befreiung seinerzeit so genau nahm? Und jener verbitterte Graubart, veranstaltete der nicht seinerzeit die legendären Lesekreise zum „Kapital“?

Aber das ist der falsche Ton (vielleicht wäre er vor 20 Jahren der richtige gewesen, als wir alle um die 40 waren). In Wahrheit lag furchtbare Traurigkeit über der Feier, trotz der schönen Musik, die es zu hören gab; obwohl die Frau Pfarrerin ihre Sache sehr gut machte – nicht hoch genug kann man die Evangelen dafür loben, dass sie seinerzeit Frauen für das Pfarramt zuließen. Sie finden – bei Trauerfeiern – so viel leichter Zugang zur Person der Toten, und die Formeln, die das Zeremoniell vorschreibt, kommen ihnen so viel frischer von den Lippen.

Die Tote, unsere alte Freundin O., hat es, wie man so sagt, zu nichts gebracht in ihrem Leben, das jetzt zu Ende ist. Zwar begann sie mit uns zusammen das Studium an der Universität, doch vermied sie jede abschließende Prüfung. Darauf folgte dann keine mehr-minder steile Medienkarriere, O. wäre nicht mit 35 stellvertretende Ressortleiterin bei der SZ gewesen, nein, nicht einmal freie Mitarbeit beim Stadtmagazin. O. schrieb nicht besonders gut und vermied, es zu lernen. Auch gründete O. kein Taxi-Unternehmen (das jetzt das zweitgrößte von München wäre), und rechtzeitig in die aufblühende Software-Industrie einzusteigen, lag ihr ganz fern: Sie hielt das bloß für den neuesten kapitalistischen Schein.

Während uns die Erinnerung an die Lebensgeschichte von O. immer tiefer bedrückte, machte die freundliche Frau Pfarrerin natürlich etwas ganz anderes daraus. Sie lobte die sprichwörtlich gute Laune von O., dass niemand sie je niedergeschlagen oder depressiv erlebt habe. Weshalb der Umgang mit ihr sich stets so angenehm und unterhaltsam gestaltete. Weshalb sie ihr Genie für Freundschaft so fruchtbar zu machen verstand, ein Genie, das ihr auch bei ihrem anstrengenden Berufsleben – wie die Frau Pfarrerin sich ausdrückte – weiterhalf und Menschen an sie band, die ganz andere Ansichten vertraten als sie. Viele kämpften mit den Tränen, als die Frau Pfarrerin liebevoll von der Selbstironie sprach, mit der O. ihre Karrierelosigkeit zu verspotten verstand.

Aber dann kam jener verbitterte Graubart, Professor an irgendeiner Fachhochschule, und für uns in der Vorvergangenheit durch seine strengen marxistischen Schulungen hinreichend charakterisiert. Er hielt die profane Trauerrede. Er erzählte, wie O. schon als Studentin die Bourgeoisie, zu der ihre Eltern gehörten, verlassen und sich auf die Seite der Erniedrigten und Beleidigten geschlagen habe. Wie sie unter schwierigsten Lebensbedingungen ihren Sohn geboren und allein aufgezogen habe – wie sie ihr Leben lang nicht aufhören konnte zu fragen und zu forschen und zu studieren, ganz wie es einer Marxistin geziemt. Wie ihre Wohnung immer verstopft war von der internationalen Presse, wie sie zum Russischen, Englischen und Französischen noch Spanischkenntnisse hinzufügte und sogar ein wenig Chinesisch. Wie das Internet ihre Recherchen erleichterte: Als die herrschende Klasse ihren Kandidaten für das Amt des deutschen Bundespräsidenten bestimmte, wer wusste da besser als O., welchen Fraktionen des Kapitals er beim IWF zu Diensten gewesen war?

Seit sie 1967 in seinen Lesekreis eintrat, rühmte Professor A., drang O. immer tiefer ein in die Marx’sche Lehre, gewann eine immer stärkere Überzeugung von ihrer Wahrheit. Nie wich sie – während so viele dem modischen Zeitgeist verfielen, der anderswohin wehte – von dieser Lehre ab. Das ermöglichte ihr, den seit den Achtzigerjahren sich ständig verschärfenden Klassenkampf von oben gegen unten rechtzeitig zu erkennen, den Sozialabbau, den die Regierung Kohl einleitete. Die Niederlage des realen Sozialismus habe sie lange vorausgesehen. In der Tat, Professor A. machte aus der krausen Biografie von unserer alten Freundin O. einen lebenslangen Kampf gegen den Neoliberalismus.

Es waren wohl nur wenige Mitglieder der Trauergemeinde, die Professor A. dergestalt zum Leuchten brachte. Die meisten machte er beklommen. Der Sohn von O., mit seiner Karriere der Chefetage in einem Verlag sich nähernd, musste einen aufsteigenden Weinkrampf niederringen; vermutlich erinnerte er sich an seine Mutter in Augenblicken schwerer Verzweiflung. Es kam auch noch, nach einer weiteren schönen Musik, ein anderer Redner, der zärtlich das eigentümlich Fromme und Handgestrickte an den linken Überzeugungen von O. hervorhob und noch einmal daran erinnerte, wie ihr Glaube sie nie in ihren Freundschaften und Zuneigungen behinderte.

Im Lesekreis gewann O. eine immer stärkere Überzeugung von der Wahrheit der Marx’schen Lehre

Ja, der Glaube. Es gibt Bemühungen, als Literalismus eine eigene Form von Ideologie oder Religion zu beschreiben. Literalismus heißt, in gewissen heiligen Büchern – die Bibel, der Koran, die blauen Bände der MEGA – ist unverrückbar die Wahrheit niedergelegt. Es kömmt nur darauf an, diese Bücher richtig zu lesen, aber dieses richtige Lesen stellt eine lebenslange und geradezu übermenschliche Aufgabe dar. Insbesondere kommt es auf wörtliches Verständnis an – wenn sich zwischen Marx’ Aufstellungen über die sinkende Profitrate und Hartz IV kein zwingender Zusammenhang ergeben will, umso schlimmer für Hartz IV! Marx’ Buch bleibt jedenfalls Wort für Wort wahr. Das Problem ist, dass du es nicht richtig zu lesen vermagst. Ebenso kann der Literalismus natürlich mit dem Koran verfahren. Oder den Büchern Rudolf Steiners.

Wir wussten nicht, als wir zu der Trauerfeier für O. in den Süden reisten, dass sie ihren Lebenssinn aus der Teilnahme an einem frommen Konventikel gezogen hatte, der ihre Jugendüberzeugungen konservierte. Bei dem anschließenden Empfang bekamen wir es mit einem Problem zu tun, das Marcel Proust im letzten Band der „Suche nach der verlorenen Zeit“ so eindrucksvoll schildert: Dieser melancholische ältere Herr dort, ja, der mit dem Schnauzer und der Pfeife, ist das nicht der ehemalige hitman von Hans-Jürgen Krahl, der seinerzeit Adorno philosophisch überholte und die Revolution anführen sollte? Und er hier, immer noch das selig-überlegene Lächeln im Gesicht, er wusste je schon alle Formen des falschen Bewusstseins, wie es die Welt regiert, aus dem Warenfetisch abzuleiten. Wie O. wurden er nie fertig; die Diplomarbeit, die Habermas’ Theorie als verqueren Ausdruck der Warenform deutet, wächst vermutlich als Zettelkasten immer noch vor sich hin.

Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin