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Geniale Kombinationsgabe und eine Portion Glück

Am 1. Juni 1952 präsentierte der englische Architekt und ehemalige Dechiffrierer Michael Ventris seine berühmte „Work Note 20“, mit der er den Code des über 3.000 Jahre alten ägäischen Linear-B-Schriftsystems geknackt hatte  ■ Von Peter Raulwing

Beim Entziffern unbekannter Schriftsysteme müssen keineswegs immer die Fachgelehrten den Hauptanteil des Erfolges für sich verbuchen. Das beweist der englische Architekt und Kryptograph Michael G.F. Ventris. Am 1. Juni 1952 überraschte er mit seiner Work Note 20 nicht nur die Fachwelt, sondern drei Wochen später erreichte ein Leitartikel in der Londoner 'Times‘ über seinen Vortrag bei der BBC auf Anhieb auch ein breites Publikum.

Die Work Note 20 erbrachte dabei den eindeutigen Beweis, daß die an verschiedenen Orten Kretas und des griechischen Festlandes gefundenen Tontafeln aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausend v. Chr. mit jenem, im Vergleich zu den anderen kretischen Schriften linear verlaufenden Duktus, in einem frühen griechischen Dialekt abgefaßt waren. Bis dahin hatte auch Ventris eher eine mittelmeerische Sprache oder das Etruskische vermutet.

Das Ergebnis der Entzifferung war — abgesehen von Ventris' genialer Kombinationsgabe — auch deshalb aufsehenerregend, weil damit eine griechisch sprechende Bevölkerung als Träger der spätbronzezeitlichen Kultur des Mittelmeerraumes dokumentiert war. Somit haben griechische Stämme einschließlich der Übernahme des phönizischen Alphabets im 1.Jahrtausend v. Chr. also zweimal ein ursprünglich nicht für ihre Sprache konzipiertes Schriftsystem adaptiert.

Die Leistungen von Ventris um das Lesen der Linear-B-Texte gehören zweifellos in eine Reihe mit der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen und der altorientalischen Keilschrift im 19. Jahrhundert. Die nun einsetzenden linguistischen Studien führten im Laufe der Jahre auch zu neuen philologischen und sprachvergleichenden Fachrichtungen. Und wenn die Ausgrabungen der klassischen Archäologie im Mittelmeerraum mit Heinrich Schliemann in Troja und Mykene begannen, so wurde spätestens mit der Erschließung der Linear-B-Denkmäler durch Ventris im Sommer 1952 der Grundstein für die Disziplin der Mykenologie gelegt.

Leider ist die Erforschung der archäologischen und inschriftlichen Hinterlassenschaften im spätbronzezeitlichen Griechenland in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. in Deutschland bis heute nicht akademisch verankert.

Wie sehen nun die wichtigsten Schritte der Entzifferung von LinearB aus? Bereits im März 1900 stieß der Archäologe Arthur Evans bei Ausgrabungen im kretischen Knossos auf ungebrannte Tontafeln, deren Erhaltung einer großen Brandkatastrophe zu verdanken war. Evans folgerte im Vergleich zu den ägyptischen Hieroglyphen und der altorientalischen Keilschrift aufgrund der Anzahl der verwendeten Schriftzeichen, daß die Linear-B-Texte in einer Silbenschrift geschrieben sein mußten, da der Zeichenbestand um die 90 lag. Das reichte für eine rein piktographische Schrift mit je einem Zeichen pro Wort nicht aus und übertraf gleichzeitig den Bestand eines Buchstabensystems, wie wir es etwa heute verwenden. Jedoch waren einige Zeichen — wie die aufgelisteter Gefäße oder Haustiere — von ihrem Inhalt her so eindeutig, daß man sie als sogenannte Ideogramme (je ein Bildzeichen pro Piktogramm für ein Wort) deuten konnte. Somit war eine erste Klassifizierung der Tafeln gegeben, bei denen es sich um Texte handeln mußte, die ganz offenbar Sachgüter des täglichen Gebrauchs inventarisierten.

Der nächste grundlegende Schritt für die Entzifferung von LinearB war nun, daß sich die Wissenschaftler Alice Kober und Emmett L. Bennett in den vierziger Jahren auf den um die Tontafelfunde aus Pylos auf der Peloponnes erweiterten Linear- B-Zeichenbestand konzentrierten. (Mit den Pylos-Funden war diese Schrift zudem nicht mehr allein auf Kreta begrenzt.) Kober stellte Gruppen gleicher Zeichenfolgen zusammen, die nur am Ende der Gruppe unterschiedliche Zeichen aufwiesen. Dieses schien auf eine Kasus-Flektion (daß heißt geschriebene Formen des Nominativs, Genitivs usw.) hinzudeuten. Bennett fertigte eine erste numerierte Zeichenliste an und gewann grundlegende Informationen über die Zahlen, Maß- und Gewichtseinheiten.

Ventris hatte mit vierzehn Jahren einen Vortrag des Altmeisters Sir Arthur Evans gehört und sich seither der Entzifferung von LinearB verschrieben. Während des Krieges dechiffrierte er Geheimcodes, und vom Anfang der fünfziger Jahre an experimentierte Ventris, wie Bennett und Kober, ebenfalls mit einer vom Zeichenbestand ausgehenden kombinatorischen Methode. Er untersuchte zunächst rein statistisch die Beziehungen zwischen Zeichengruppen (wie oft kommt ein Zeichen in den Texten oder in einem Wort vor, an welcher Stelle usw.). In seinen 20 Wort Notes brachte er die unter verschiedenen Aspekten der Beziehungen von Zeichen(gruppen) zueinander gemachten Beobachtungen in ein tabellarisches System. Dieser sogenannte Silbenrost oder Grid listete dann die vermuteten Vokale und Konsonanten plus Vokale in einem Koordinatensystem auf, wobei Ventris versuchte, die vermuteten Lautwerte den von Bennett numerierten Zeichen zuzuordnen.

Als zunächst reine Arbeitshypothese ging Ventris bei ganz bestimmten Zeichengruppen von der Wiedergabe kretischer Ortsnamen aus. Der bei Homer belegte Name für Knossos etwa war auch nach seinem Silbenrost für LinearB (ko-no-so) unter Berücksichtigung der mykenischen Schreibregeln in sich stimmig. Auf dieser Basis entstand ein 553 Wörter umfassendes Experimental Vocabulary, deren griechische Etymologie sofort ins Auge stach. Nun wurde auch für Ventris der Schluß immer unausweichlicher, daß jenes Linear- B-Schriftsystem in einem frühen Griechisch abgefaßt war. Zusammen mit dem Gräzisten John Chadwick, der sein engster Mitarbeiter wurde, publizierte er 1956 das Standardwerk Documents in Mycenaean Greek.

John Ventris starb am 6.September 1956 an den Folgen eines Autounfalls. Am 12.Juli 1992 wäre er siebzig Jahre alt geworden.

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