Generationen: Die Klagen der Großmutter
Die Kinder von Holocaust-Überlebenden wollen, dass der deutsche Staat ihnen eine Therapie zahlt. Ich bin Enkel und behaupte: Ich brauche sogar eine Doppelte!
Neulich verbreitete die Deutsche Presse Agentur folgende Nachricht: "Kinder von Holocaust-Überlebenden wollen vor einem Gericht in Israel Entschädigungen aus Deutschland erstreiten." Laut der Tageszeitung Haaretz wollen die 3.000 Israelis, die sich der Initiative bisher angeschlossen haben, dass "die deutsche Regierung die Kosten für Therapien übernimmt, die das Leid der zweiten Generation lindern".
Erfahrungsgemäß fragt sich der gute deutsche Steuerzahler, bevor er sich über die Nachricht ein diskretes Totlachen erlaubt, wie viel ihn dieser Witz wohl kosten könnte. Wir fragten deswegen unseren Spezialisten für Narrheiten und benachbarte Gebete, wie viel man in Israel für ein Stündchen Therapie verlange. Im Falle der Männer hänge das davon ab, wie nahe beim Gazastreifen sie ihren Dienst tun und im Falle der Frauen von ihrer Nähe zum ehemaligen Präsidenten, meinte er, aber was kann ein Typ schon wissen, der in Berlin vegetiert, seine Analysen auf Webseiten gründet und dazu noch Lacanianer ist. Um die Rechnung zu vereinfachen, sagen wir also 100 Euro die Stunde (natürlich ohne Vorhaut, also 50 Minuten), zwei Stunden die Woche, 30 Jahre lang (eine Crash-Therapie für fast sechstausend Jahre Leid), und dies für die dreitausend Kläger, das ergibt eine Summe von rund 300 Millionen Euro. Wahnsinnig viel Geld, vor allem wenn man bedenkt, dass "Der Untergang" nur 13,5 Millionen kostete und man darüber ganz laut lachen darf.
Da dies keine gehackte mezie zu sein scheint (des Jiddischen nicht mächtig? Selber schuld!), sollte man sich vielleicht statt einer globalen Entschädigung besser für jeden Einzelfall etwas Eigenes einfallen lassen. "In der Klageschrift werde der Fall einer 55-jährigen Klägerin genannt", liest man in der eingangs erwähnten Agenturmeldung, "die nicht mit Bussen fahren könne, weil sie dies an Züge erinnere, in denen Juden in Vernichtungslager gefahren wurden. Eine andere Frau habe starke Angst vor Hunden." Na also, sagt sich der kluge Hobbytherapeut, schenken wir doch der ersten Frau ein Auto, falls sie das nicht mit Flugzeugen oder gar Raketen in Verbindung bringt, oder ein Fahrrad oder ein Paar neue Sportschuhe, und der zweiten Dame eine schöne Hündin, die die bösen Hunde bei Laune hält, oder einen Paralyser oder einfach ein Paar Schienbeinschützer.
Klingt alles ziemlich preisgünstig, ist aber zu kurz gedacht: Es fehlen noch 2.998 Fälle. Und auch, wenn man in all den übrigen Fällen ebenso billig davonkommt: Die zuständige Behörde, die man naturgemäß einrichten müsste, um jeden Fall gründlich zu erforschen, damit Spekulanten und Opportunisten nicht zum Zuge kommen, würde sicherlich weitere 300 Millionen Euro kosten, Kinderpornografie und Telefonsex noch nicht einberechnet. Dazu kämen die Unkosten, um weitere Klagen zu verhindern, jeden neugeborenen Juden eine Erklärung unterschreiben lassen, in der er unter Eid versichert, künftig weder den amerikanischen Präsidenten töten noch den deutschen Staat verklagen zu wollen.
Dabei sind wir noch nicht einmal beim wahren Problem angekommen, denn zur sogenannten zweiten Generation käme selbstverständlich noch die dritte, also ich. Als Enkel einer Auschwitz-Überlebenden und dazu noch Sohn ihrer Tochter habe ich Anspruch auf eine doppelte Therapie, und wehe dem, der sich darüber lustig zu machen wagt. Nur ein Tag, was sage ich doch, nur ein Stündchen mit meiner Mutter und meiner Oma würde jedem von euch das Lachen nicht nur für jene Stunde oder jenen Tag, sondern fürs ganze Leben verderben! Es ist schon gar algebraisch unleugbar, dass die Last, die wir Auschwitz-Enkel zu tragen haben, viel schwerer ist als die, die anfangs an Söhne und Töchter traditionsgemäß übergeben wurde, denn sie beinhaltet beide, die der Großeltern und die der Eltern, plus Zinsen. Ich muss nicht nur die Klagen meiner Oma über Auschwitz hören, sondern auch die Klagen meiner Mutter über die Klagen meiner Oma, die Klagen meines Vaters über die konstanten Klagen der Ehefrau und der Schwiegermutter und meine eigenen Klagen, jetzt könne man aber langsam das Thema wechseln. Auch das Trauma potenziert sich unaufhaltsam, mit tragischen Konsequenzen. Meine Oma, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, mag keine Männer mit Schnurrbart (die erinnern sie an die Züge), weswegen meine Mutter vorsichtshalber einen bartlosen Mann geheiratet hat und ich heute unter Haarausfall leide. Zweites Beispiel: Meine Oma kann nicht ertragen, dass man Essen im Teller stehen lässt (das erinnert sie an Schnurrbärte), meine Mutter auch nicht und dementsprechend ich auch nicht. Also esse ich alles und werde immer dicker. Dick und kahlköpfig schon mit 32! Schuld an einer solchen Katastrophe kann nur einer sein: das deutsche Volk.
Also muss das deutsche Volk zahlen. Und wer meint, nach 60 Jahren reicht es langsam schon, den setze ich gern mit jenem Anwalt hier in Argentinien in Verbindung, der vor kurzem den spanischen Staat wegen des Völkermords an den Indianern angeklagt hat.
Bezahlen müssen sie also, die Deutschen, und zwar gerne und verständnisvoll. Schließlich betreibt man im Land der Täter ebenfalls eine zunehmende Viktimisierung der ganzen Gesellschaft. Vor nicht allzu vielen Jahren waren es die Juden, die unter der Schoah leiden mussten. Sieht man sich die Serien, Filme und Bücher an, die heutzutage über das Thema veröffentlicht werden, würde man eher die Deutschen als die wahren Opfer bezeichnen, darunter auch die deutsche Soldaten, allesamt, außer vielleicht Hitler selbst (aber den auch, die arme Nazi-Sau, schaut mal, wie einsam er in seinem Bunker brüllt!).
Ich zum Beispiel, da wir schon über Selbstviktimisierung sprechen, kann keinen Verlag dazu bewegen, mein Buch über meine Oma ins Deutsche zu übersetzen. Die wahre Geschichte einer Auschwitz-Überlebenden! Vor 15 Jahren wäre so etwas ein Bestseller gewesen, ich hätte mich damit für meine ganze Familie entschädigen können, heute aber interessiert sich kein Schwein dafür. Das Buch sei sehr rührend, höre ich immer wieder, aber leider nicht das, was wir im Moment suchen. Rührt euch doch eure eigenen Eier! Ich habe meine voll von euren pietätvollen Zurückweisungen und arbeite an einem weiteren Buch, diesmal über die fürchterlichen Erfahrungen von Günther, mit Beinamen Gras der Kiffer, der als junger Soldat wie alle Deutschen viel erleiden musste, der wie alle Deutschen das perfekte Attentat auf Hitler hätte verüben wollen, hätte er nicht die Pläne dazu verloren (ein KZler, erfahren wir am Ende, benutzte die Papiere, um sich den Arsch abzuwischen). Echt coole Story, wat?
Verstehen also die Deutschen, dass die klagenden Israelis irgendwie dasselbe machen wie sie selbst, nämlich die Gruppe der Opfer auszuweiten, vielleicht aus Angst, wo die wahren Opfer doch schon am Aussterben sind, die Spezies könne in Gefahr geraten. Und deshalb müssen sie zu entsprechenden Mitteln greifen.
Ihr Deutschen solltet mal die Israelis und alle Juden auf Nichtschadenersatz klagen! Eine in meiner Familie bekannte Anekdote kann dieses Konzept vielleicht erläutern: Mein Opa konnte noch vor dem Krieg nach Rio fliehen, da saß er unter der wohltuenden Sonne am Strand, an seiner Ananas schlürfend schaute sich die Strandschönheiten in Ipanema an und meinte: danke, Adolf, dass du mich hinausgeworfen hast! (Es wird auch erzählt, dass er auf seinem brasilianischen Sterbebett andauernd Beethoven gehört habe und sich immer wieder fragte: Wie konnten sie uns so was antun? Aber, na ja, ältere Leute werden manchmal ein bisschen sentimental). Mit Nichtschaden meine ich ebendiese Vorteile, die man im Exil genoss, aber vor allem die Nichtnachteile, die ein Leben außerhalb Deutschlands mit sich bringt. Die Israelis und Juden sollten den Deutschen für all das Sauerkraut, all die Pünktlichkeitsparanoia, die krank machende Leistungsgesellschaft, das Latinum, die Meldebehörde, all die Behörden, all die kafkaeske Bürokratie, all die synchronisierten Filme und all die endlosen Winter, für all das, was ihnen erspart blieb, sollen sie an die Deutschen zahlen. Und zwar reichlich: ein Leben ohne Weihnachtsschaufenster schon ab August, ohne Aldi-Essen und ohne Deutsche Telekom ist ein unbezahlbar besseres Leben. Keine noch so große Entschädigung unsererseits könnte das, was uns die Deutschen damit nicht angetan haben, gerecht ausgleichen.
Die Israelis ihrerseits sollten, statt sich lächerlich zu machen und die Nazi-Foren im Internet zu speisen (seriöse Medien haben die Nachricht barmherzig ignoriert), endlich begreifen, dass man Entschädigungen nicht erbettelt, sondern galant erobert. Nehmen wir zum Beispiel den Fall meines Bruders, der in Berlin lebt und seine deutsche Frau mit seinem mosaischen Samen geschwängert hat. Bravo, Bruder! Dass wir zurückkommen können ins Land der Täter, dass wir uns wohlfühlen können und dort ein neues Leben anfangen wollen, das ist die wahre, für alle vorteilhafte Entschädigung.
Und falls die andere Entschädigung doch kommen sollte (das Schuldgefühl kann entkräftet werden, nicht aber die Schuld), so weiß ich schon, was ich mit meinem Anteil machen werde: Alles geht an meine zukünftige Nichte, damit sie mit einem guten Psychoanalytiker ihr Vierte-Generation-Trauma aufarbeiten kann, ehe sie sich selbst auf Entschädigung verklagen muss. Was aber die Israelis betrifft, so würde ich an ihrer Stelle das Geld gut aufbewahren, um es dann weiterzuleiten: Bald könnten es die Kinder und Enkelkinder der Palästinenser reklamieren.
Der Autor ist Schriftsteller und lebt in Buenos Aires. Zuletzt erschienen: "La abuela", die Geschichte seiner Großmutter, einer Auschwitz-Überlebenden, immer noch nicht auf Deutsch erhältlich
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen