Gendervordenkerin Judith Butler: Wer ich bin, sagen die anderen
Für einige ist Judith Butler eine Wissenschaftlerin, für andere eine Heil bringende Erlöserin. Am vergangenen Freitag sprach die Ikone der Gendertheorie in Potsdam.
Das Subjekt, sagt Judith Butler, existiert außerhalb seiner selbst. "Wenn ich zu bilanzieren versuche, wer ich bin, bin ich bereits in den Händen des anderen."
Glaubt man an diese Theorie, nimmt man also die anderen als Maßstab für Butler, so ist die amerikanische Wissenschaftlerin eine akademische Erlöserin.
Hunderte von Studenten waren am Freitagabend zur Universität nach Potsdam gekommen, um Butler live zu erleben. Die Stimmung im Audimax war zunehmend die eines Rockkonzerts, auf jedem freien Fitzel quetschten sich Fans, wer keinen Stuhl mehr bekommen hatte, verstopfte alle möglichen Gänge. Am Ende hockten sogar auf der Bühne vor Butlers Füßen die Bewunderer, und immer noch drängten sich weitere von den Treppenhäusern in den Saal hinein.
"Wo immer Judith Butler auftaucht, sorgt sie für Aufregung", erklärte die nicht näher eingeführte Veranstalterin Juliane Rebentisch. Für die Texte der radikalen Genderqueen mag das gelten, für ihren Auftritt in Potsdam traf das nicht zu. In schöner Einigkeit lauschte das Publikum Butlers Verwünschungen über Amerikas Kriege und seine Allmachtsfantasien. Einige der Gangbesetzer hatten ihren Kopf in den Schoß des Partners gelegt, manche lächelten sich wissend bei Butlers Anspielungen auf Susan Sontag zu, und viele nickten bedächtig bei der linkswissenschaftlich üblichen Medienschelte. Eine beträchtliche Menge schrieb jedes einzelne Wort mit, so als wäre das die einzige Form, wie man diese kostbaren Worte in die Welt hinausbringen könnte.
Während sich die Menge wie eine Pfingstkirchengemeinde benimmt, ist Butler ganz Wissenschaftlerin: Sie zitiert Melanie Klein, bezieht sich auf Hegel und spricht auch sonst so, dass man sich fragt, ob man all dies nicht schon einmal irgendwo gelesen oder gehört hat. Vermutlich bei Butler selbst.
Doch Judith Butler ist bei diesem Liveauftritt so irre sympathisch, dass man sich während der eher akademischen Ausführungen ohnehin vornimmt, ihre Bücher noch mal - und diesmal wirklich - zu lesen. Anders als andere Berühmtheiten hat Butler sich speziell vorbereitet: Die Ikone spricht Deutsch, und zwar nicht nur in ihrer ersten amüsierten Antwort auf den extremen Zuspruch, sondern während des gesamten Vortrags. Ein sauber artikuliertes Deutsch hat sie. Und während sie redet, wiegt sie leicht die Hüften, sodass ihr großzügig geschnittener Herrenanzug leicht mitschwingt.
Und als man es schon fast nicht mehr gedacht hätte, nimmt der Vortrag auf einmal eine faszinierende Wendung. Butler wird konkret, zitiert Gedichte, die Häftlinge in Guantánamo auf Styroporbecher oder mit Zahnpasta geschrieben haben und die sie von Zelle zu Zelle austauschen. "Die prekäre Kadenz der Einsamkeit" nennt sie diese Technik der Isolierten, über Gedichte eine Gemeinschaft zu bilden.
In den Uniseminaren rufen Butlers Thesen, dass die geschlechtliche Identität allein durch "männliche" oder "weibliche" Handlungen gebildet wird, gerne mal Entsetzen und totale Ablehnung hervor. In Potsdam jedoch hat sich die ohnehin große Judith-Butler-Gemeinde Deutschlands versammelt, hier gipfelt die nette Fragerunde nach dem Vortrag in einer kleinen Offenbarung. Als Letzte meldet sich eine junge Frau zu Wort: "Ich möchte Ihnen aus der Tiefste meines Herzens danken", sagt sie sichtlich bewegt. "Ihr Denken hat mein Leben verändert."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Koalitionsvertrag in Brandenburg steht
Denkbar knappste Mehrheit
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“