: Gemeinsinn heute
Ein Umbau des Sozialstaats, der nicht dessen Demontage bedeutet, setzt die Erfindung des Solidarischen voraus ■ Von Andrea Fischer
Dem Sozialstaat bundesdeutscher Prägung scheint keine glanzvolle Zukunft beschieden. Von allen Seiten unter Druck geraten, kränkelt er vor sich hin. Allenthalben tun sich Finanzlöcher auf, die dauerhafte Erwerbslosigkeit von Millionen Menschen fordert ein System heraus, das auf Vollbeschäftigung gegründet ist. Der Ruf nach Abbau von Sozialleistungen hat Konjunktur. Derart unter Bedrängnis, reagieren auch seine FürsprecherInnen nur noch matt: Die soziale Sicherheit wird als positiver Standortfaktor beschworen, die historische Verankerung im deutschen Selbstverständnis bemüht.
Zwei sozialpolitische Strategien stoßen in dieser Umbruchsituation an ihre Grenzen: Von konservativer Seite wird das Vakuum, das der staatliche Rückzug aus der sozialen Sicherung hinterläßt, mit starken Appellen an Verantwortung und Eigeninitiative zu füllen vesucht. Die Sozialdemokratie hingegen setzt immer noch einzig auf den Staat als Ausfallbürgen für den abnehmenden gesellschaftlichen Zusammenhalt, obwohl dies auch beim besten Willen nicht mehr finanzierbar sein wird. Mehr noch: Es ist zweifelhaft, ob die Zukunft des Sozialen überhaupt in einem Ausbau des vormundschaftlichen Staats liegen kann.
Das Schielen aufs knappe Geld verstellt den Blick für die Herausforderung, welcher der Sozialstaat in den kommenden Jahren ausgesetzt ist. Es geht nicht um hier ein Prozent weniger Rentenbeiträge und dort eine gestrichene Leistung der Krankenkasse. Wer so griesgrämig und geizig über den Preis redet, der schätzt die Leistung nicht mehr, die er für sein Geld bekommt: Der Sozialstaat leidet an der Krise der Zustimmung zum Sozialstaatsprojekt. Diese Krise ist folgenreich, denn sie führt zu einem Mangel an reformerischem Elan für den zukunftsgerechten Umbau des Sozialstaats. Statt nach neuen, flexiblen Formen der gemeinsamen Organisation von sozialer Sicherheit zu suchen, werden radikale Alternativen beschworen, die nur auf eine Privatisierung sozialer Risiken hinauslaufen.
Die wohlwollende Resonanz auf die moderne Sozialstaatsfeindschaft ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit, um die Zustimmung zur Gemeinsamkeit wieder zu kämpfen. Dafür kann Solidarität nicht als metaphysischer Wert eingeklagt werden. Es muß vielmehr darüber gestritten werden, wie Solidarität heute aussehen könnte. Welches Risiko will man gemeinsam sichern, was ist dafür die geeignete Form? Die Widerspenstigkeit gegen tradierte Formen von Solidarität erwächst aus dem Eindruck, daß sie unvereinbar sei mit den modernen Formen von Individualisierung. Aber kollektive soziale Sicherung ist gerade die Voraussetzung für die Verfolgung individueller Lebensentwürfe. Sonst wird sie nicht zu einem emanzipatorischen Abenteuer, sondern zum Drahtseilakt.
Die Verhandlung über die Zukunft des Sozialen braucht Zeichen, Anknüpfungspunkte. Ein solches Zeichen kann die – längst überfällige – Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung sein. Zu lange schon sind die Opfer von Strukturwandel und Krise auf unzureichende Sozialhilfeleistungen angewiesen. Aber es geht dabei auch um ein Signal: Der Gesellschaft sind ihre schwachen Mitglieder nicht gleichgültig. Auch denjenigen, die im kräftezehrenden Wettbewerb um Erwerbsarbeit, Einkommen und Ansehen auf der Strecke geblieben sind, soll ein Weg in das Zentrum offenbleiben.
Ein seriöses Integrationsangebot wird eine Grundsicherung allerdings nur werden, wenn die Gesellschaft ihre dominierenden Lebensentwürfe und ihr Verständnis von Erwerbsarbeit in Frage zu stellen bereit ist. So erfreulich es ist, daß durch die Arbeitsmarktkrise die Arbeitszeitverkürzung jetzt auch in klassischen männlichen Industriearbeitssektoren hoffähig geworden ist – man gibt sich noch dem Trugschluß hin, dies sei eine vorübergehende Unbill und in absehbarer Zeit herrsche wieder business als usual.
Das wird so nicht sein, und es soll auch gar nicht so sein. Es wird so nicht sein, weil die Krise der Arbeitsgesellschaft viel tiefer reicht als in das Tal der Rezession. Es soll aber auch nicht so sein, weil diese Gesellschaft auf Menschen angewiesen ist, die ihren Lebenssinn nicht ausschließlich in möglichst langer entlohnter Erwerbsarbeit sehen. Der Kampf um die Arbeitszeitverkürzung darf darum nicht nur defensiv geführt werden, indem ein notwendiges Mittel gegen die Erwerbslosigkeit gepriesen wird. Sondern es muß endlich laut ausgesprochen werden, was sich die wenigsten bislang eingestehen: Nur bei deutlich verkürzten Arbeitszeiten für alle wird die Gesellschaft die Aufgaben im sozialen Bereich bewältigen können.
Damit wäre eine Voraussetzung für die Zukunft des Sozialen gegegen, nämlich hinreichend Zeit, sich zu kümmern. Aber Zeit ist – ebenso wie Geld – nur eine von mehreren Bedingungen, die erfüllt sein müssen. Aufgabe staatlicher Politik muß es sein, die Strukturen zu schaffen, daß Menschen die Verantwortung für sich selbst und füreinander auch wahrnehmen können. Nur wer Strukturen schafft, die Menschen dabei helfen, füreinander einzustehen, darf überhaupt die Forderung nach Wahrnehmung der Verantwortung erheben. Die Aufgabe des modernen Sozialstaats besteht darin, die Gesellschaft so zu gestalten, daß gelebter Gemeinsinn möglich wird.
So könnte eine Befreiung vom Mißmut über den Zustand des Sozialstaats beginnen. Offen bleibt damit allerdings immer noch die Gretchenfrage der Gemeinsamkeit: Für wen fühle ich mich verantwortlich, wer ist mir gleichgültig, wen will ich gar ausschließen? Sozialpolitiker aller Couleur haben sich zu lange mit einfachen Antworten aus der Affäre gezogen. Der Verweis auf die Familienbande ist die Kehrseite des Verweises auf die nationale Zugehörigkeit. Hier könnten die Individualisierungsprozesse einen überraschenden Ausweg aus der traditionellen Begründung für Zusammengehörigkeit weisen. Wenn Tradition, Herkunft und Blutsbande für die eigene Verortung in der Gesellschaft an Bedeutung verlieren, so taugen diese Kriterien auch nicht mehr zur Begründung einer Beziehung zu anderen. Damit wird Solidarität verhandelbar und herstellbar zu vielen verschiedenen. Hier liegt das Feld für die politische Einmischung.
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