Gemeinsame Mahlzeiten?: Esst euern Scheiß doch alleine!
Ständig werden die gemeinsamen Mahlzeiten gepriesen. Dabei birgt nichts so viel zwischenmenschliche Sprengkraft wie zusammen kochen und essen. Ein Pamphlet.
![](https://taz.de/picture/198368/14/topfkrieg.jpg)
Familien tun es viel zu selten, die Weltgesundheitsorganisation ist schon alarmiert: Zusammen essen – superwichtig! Auch Verliebten wird zum Candlelight geraten. Liebe geht angeblich durch den Magen.
Glaubt man Amazon, sind allein in diesem Jahr schon 115 neue Kochbücher auf den Markt gekommen. Egal zu welcher Uhrzeit man durchs Fernsehen zappt – ein oder zwei Kochsendungen laufen sicherlich. Und die Menschen geben inzwischen mehr Geld für Kochwerkzeuge aus als für den Rest ihrer Wohnung.
Brotbackmaschinen, Kochkurse und Gourmetreisen scheinen in zu sein. Stundenlang können die neuen Teig- und Tomatenexperten über ihren guten Geschmack monologisieren, ein Feinschmecker darf sich dem pragmatischen Esser auch menschlich überlegen fühlen. Kaum ein Marketingsatz der Lebensmittelindustrie wird so oft nachgeplappert wie: „Keine Nation gibt so wenig Geld für Essen aus wie wir Deutschen!“ Stets mit dem Gefühl, damit etwas besonders Wichtiges gesagt zu haben.
Dass essen, kochen, gastronomieren wichtig, gesund, sozial und gerecht seien, ist ein Gemeinplatz, vor dem man nirgends sicher ist. Am allerwenigsten im eigenen Freundeskreis.
Aber was ist das eigentlich für ein fadenscheiniges Hobby, dieses essen, schmecken, rumgedünste? Und verdienen Durst und Appetit wirklich so viel soziale Anerkennung? Schlucken kann schließlich jeder. Dem ganzen Gerede um Lachs und Limetten mutet zudem etwas Beliebiges, wenn nicht gar Dünkelhaftes an.
Früher hieß es in der Joghurt-Werbung noch: „So wertvoll wie ein kleines Steak.“ Mit fettem Lachs fütterte man im 19. Jahrhundert die Proletarier. Heute leiden eh alle unter Laktoseintoleranz, man verzehrt sich nach Lachs und isst statt Fleisch lieber tonnenweise Rhabarber. Den man früher für ein Unkraut hielt. Denn von zu viel Rohkost bekommt man eigentlich Blähungen.
Die meisten Ehen werden beim Essen geschieden
Dass gemeinsam essen glücklich macht, ist zudem eine gefährliche Fehleinschätzung. Man sagt ja, die meisten Ehen würden im Urlaub geschieden. Eine kleine Präzisierung: Die meisten Ehen werden beim Essen geschieden. Man hat nur in den Ferien so viel Zeit dazu.
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Und beim Kochen. Denn dabei treten nur die schlechtesten Eigenschaften zum Vorschein. Rechthaberei zum Beispiel. Ob man Rüben lieber quer schneidet, auf Teflon nicht mit Messing kratzt oder Teekannen eine Patina brauchen – der Partner hat dazu gewiss eine Meinung, nämlich die genau entgegengesetzte. Und würde lieber sechs Monate lang auf die Macht an der Fernbedienung verzichten, als in diesen Punkten nachzugeben. Es geht ums: Eingemachte.
Wundert es eigentlich niemanden, dass schon die Vorfahren so viel über Tischmanieren und Besteck nachgedacht haben? Norbert Elias beschreibt in seinem Standardwerk „Über den Prozess der Zivilisation“ wie viel Zeit vergehen musste, bis die Menschen lernten, die erlegte Beute friedlich zu teilen. Wehe, da schmatzte einer und erinnerte daran, dass man das ganze Bison nicht für sich haben konnte.
Doch hundert Jahre Knigge, volle WG-Kühlschränke, geräuschmindernde Werkzeuge wie Messer und Löffel und ein eigener Napf für jeden kleinen Bisonjäger bedeuten längst nicht, dass der Futterneid im Stammhirn schweigen würde. Unter der dünnen Schicht aus Serviettenstoff und Porzellan brodelt es weiter. Und nicht zuletzt ist der tödlichste aller Familienkonflikte die Magersucht, die psychische Krankheit mit den besonders schlechten Heilungschancen.
Mehr Todesfälle als im Straßenverkehr, ein Unglück alle zwei Minuten: Bekanntlich passieren auch die meisten Unfälle im Haushalt. Laut einer Studie der Allianz-Versicherungen aus dem Jahr 2011 ist die Küche der gefährlichste Ort, verantwortlich für 32 Prozent aller Wunden, Brüche, Verbrennungen. Wer weiß, wie oft ein Familienmitglied insgeheim die Finger im Spiel hatte.
Krieg der Töpfe
In Literatur und Kino ist das lange schon bekannt. Kaum ein Szenario vermag so viel Beklemmung zu transportieren wie: die Familie am Esstisch. Ellbogen ängstlich an den Körper gedrückt, der Rücken überstreckt, der Kopf gebeugt. Besteck kratzt über den Teller. Hinter einer harmlos klingenden Frage – „Kannst du mir mal die Butter reichen?“ – können sich Abgründe auftun. In den Filmen „Das weiße Band“ oder „Das Fest“, im Roman „Die Korrekturen“: Immer wieder passiert es beim Essen. Am Weihnachtsabend kumulieren die Gefühle. Totalkatastrophe. Krieg der Töpfe.
„Das Muschelessen“ heißt eine 1990 mit dem Bachmannpreis ausgezeichnete Erzählung von Birgit Vanderbeke. Miesmuscheln sind das Lieblingsessen des Vaters. Konsequenterweise werden die schlüpfrigen Dinger den ganzen Abend über nicht angerührt. Am Schluss landen sie im Mülleimer – und die Familie befreit sich aus der Despotie des Vaters.
Horrorfilme beginnen gern mit einer Nahrungszubereitung. Denn genau dahin führt ein Essen: ins Gemetzel. Die beste Szene in „Scream“ ist der Anfang der ersten Folge. Drew Barrymore will Popcorn machen und stellt eine Alupfanne auf den Herd. Hätte sie das bloß gelassen. Während sich das Teil zu einem scheußlichen Klumpen aufbläht, nimmt das Unheil seinen Lauf. Am Ende hängt Drew ausgeweidet an der Familieneiche, die Küche raucht.
Bei Michael Hanekes „Funny Games“ eskaliert die Gewalt der psychopathischen Ferienhausbesucher ebenfalls beim Essen. In logischer Konsequenz hält der Mörder im „Schweigen der Lämmer“ sein Opfer beständig dazu an, die eigene Haut mit Lotion einzureiben. Wie einen Hähnchenbraten. Hänsel und Gretel, Deutschlands bekanntestes Märchen: Es handelt genau betrachtet nur von Familie, Fressen und Gefressenwerden.
Zum Aufessen gezwungen
In so manchem deutschen Haushalt wird noch immer zum Aufessen gezwungen. Weshalb Labskaus, Rosenkohl und Fettränder wohl nie aussterben.
Teenager, die Mahlzeiten im Familienkreis einnehmen, greifen weniger oft zu Drogen, behauptet eine Studie der Uni Illinois. Zudem sei bemerkt worden, dass diese Kinder ein deutlich größeres Vokabular besäßen, behauptet Professorin Barbara Fiese. Worin der Wortschatz genau besteht, verrät sie nicht.
Hinter andauerndem Lob der Nahrungsaufnahme lassen sich nicht nur Essstörungen, sondern auch persönliche Unzulänglichkeiten verstecken. Wer sich ununterbrochen aufs Essen konzentriert, muss sich nicht am Gespräch beteiligen. Und wer sich beim Geschäftsessen nicht gut zu betragen – und durch kluge Beiträge zu beweisen – weiß, der muss eben leider draußen bleiben.
Das Schlimmste jedoch ist, dass Millionen von Menschen sich täglich mit unnützen Emotionen herumschlagen. Sie werden den Fehler bei sich suchen. Die schlechte Laune weitergeben. Ihre Mitmenschen hassen. Dabei ist es mehr als menschlich, sich vor kleckernden, gierig schlürfenden Sitznachbarn zu ekeln. Nur konsequentes Alleinessen könnte helfen.
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