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Archiv-Artikel

Geldregen für Polen

Die Bauern im Osten galten lange als Verlierer der Erweiterung. Bisher haben sie eher gewonnen

„Nach dem polnischen Beitritt zur EU haben wir den doppelten Preis für Schweinefleisch erzielt. Es kann nur noch besser werden“

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Auf diesen Tag hatten die polnischen Bauern lange gewartet. Am 18. Oktober war es so weit: Ein warmer Geldregen aus Brüssel ging über Łomża, einem Städtchen im Nordosten Polens, nieder. 5.000 Bauern aus der Umgebung bekamen die ersten Direktbeihilfen aus Brüssel. Zur großen Feier reisten Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski an, die Minister für Landwirtschaft, Finanzen und Äußeres, außerdem die polnische EU-Kommissarin Danuta Huebner.

Łomża liegt in einer der ärmsten Regionen Polens. Das Leben hier ist voller Entbehrungen. Die Bauern sind schweigsam, misstrauisch. Viele Hoffnungen und Wünsche hat man hier nicht. Sie wurden zu oft enttäuscht. Doch die Anträge auf Direktbeihilfen aus Brüssel haben fast alle Bauern ausgefüllt, auch die ärmsten, die nur ein oder zwei Hektar bewirtschaften.

Wenn es am Ende doch Geld geben sollte aus Brüssel, wollte man nicht als der Dumme dastehen. Immerhin sollte es für jeden Hektar bewirtschaftetes Land jährlich rund 100 Euro geben. Und nun flossen tatsächlich die ersten 21 Millionen Zloty (4,5 Mio. Euro) auf die Konten der größten EU-Skeptiker unter den polnischen Bauern – berechnet nach dem für Polen äußerst günstigen Umrechnungskurs von 4,71 Zloty zu 1 Euro vom Dezember 2003. Manche werden sich nur einen neuen Kühlschrank kaufen, andere wollen ihren Maschinenpark erweitern und erneuern. Bis Mai 2005 werden 1,4 Millionen polnische Bauern umgerechnet 2,1 Milliarden Euro Direktbeihilfen erhalten. Zum Vergleich: Die Franzosen erhalten im selben Zeitraum 10 Milliarden, die Spanier 6,5, die Deutschen 5,6 Milliarden Euro und selbst das kleine Österreich 1,2 Milliarden Euro.

Pawel Szymczakow ist 23 Jahre alt. Er wohnt in Konary, einem Dorf in Zentralpolen, steckt voller Energie und Tatendrang. Auf dem Hof ist er groß geworden, er kennt jede Ecke und Schraube. Sein Vater Leon ist 63, geht leicht gebeugt, langsam. Sein Gesicht ist sonnenverbrannt und voller Falten. „Wir züchten Schweine. 120 haben wir“, sagt Pawel. „Dieses Jahr, nach dem Beitritt zur EU, haben wir den doppelten Preis für Schweinefleisch erzielt: 4,5 Zloty pro Kilo statt 2,1 Zloty im letzten Jahr.“ Er grinst über das ganze Gesicht. „Als wir in der EU waren, konnten die im Westen gar nicht genug kriegen von unserer Milch und unserem Fleisch. Und wir hatten Angst, die würden uns mit hochsubventionierter Billigware überschwemmen!“ Er lacht verschmitzt und winkt ab. Das war einmal. „Es kann nur noch besser werden!“

Der Schweinestall ist hochmodern und erfüllt sämtliche EU-Standards. Es gibt keine Tränke mehr. Vielmehr ragen aus den Wänden kleine Kräne. Stößt ein Schwein mit seinem Rüssel gegen einen solchen Kran, fließt automatisch Frischwasser. Um den Stall zu bauen, hatten die Szymczakows einen Kredit aufgenommen und einen Zuschuss aus dem Sapard-Programm der EU zur Modernisierung der Landwirtschaft beantragt. Insgesamt bewirtschaften sie 52 Hektar Land, bauen Weizen an, Raps und Zuckerrüben, in diesem Jahr zum ersten Mal auch Mais. Nur 6 Prozent aller polnischen Bauern haben so große Höfe. „Wir dachten, nach dem Beitritt würde es schwer für uns werden. Aber jetzt sehen wir, wie gut es geht. Unsere Schweine sind unser größter Schatz.“

Im Jahr erzielen sie rund 30.000 Zloty Reingewinn, umgerechnet knapp 7.000 Euro jährlich oder 576 Euro im Monat. Einen Antrag auf Direktbeihilfen haben sie natürlich auch gestellt. Und jetzt sind sie auch sicher, dass das Geld kommt. Rund 25.000 Zloty (rund 5.760 Euro) müssten es sein. Davon wollen sie Dünger kaufen und einen Teil des Kredits für den neuen Traktor abbezahlen. Vater Leon will sich langsam zurückziehen. Wenn er den Hof auf seinen Sohn überschreiben würde, hätte er Anspruch auf eine so genannte Strukturrente aus Brüssel. Doch Vater Leon hat es nicht eilig. Das alles will gut überlegt sein.

Politisch hat der Geldregen aus Brüssel den Populisten die Anti-EU-Argumente geraubt. Denn auch der radikale Bauernführer Andrzej Lepper, dessen Anhänger immer wieder Grenzübergänge blockiert und Importgetreide aus der EU auf die Schienen geschaufelt hatten, gehört zu den großen Gewinnern des EU-Beitritts. 100.000 Zloty (23.040 Euro) wird er an Direktbeihilfen erhalten. In diesem Jahr gab es zum ersten Mal seit der Wende 1989 keine Bauernproteste nach dem Erntedankfest.

Knapp sechs Monate nach dem EU-Beitritt fällt in Polen die erste Bilanz positiv aus. Die großen Beitrittsgewinner sind die Bauern. Sie profitieren nicht nur von den Beihilfen – allein in diesem Jahr erhalten sie über 8 Milliarden Zloty (1,84 Mrd. Euro), sondern auch von der enorm gestiegenen westlichen Nachfrage nach Milch, Rindfleisch und Hähnchen aus polnischer Produktion.

Anders als von Forschungsinstituten in Polen vorausgesehen, sanken die Preise nicht durch den Wegfall der Zollgrenze, sondern stiegen. Statt von Billigware aus dem Westen überschwemmt zu werden, wie viele Wirtschaftswissenschaftler in Polen dies prophezeit hatten, entwickelte sich Polen innerhalb kürzester Zeit zu einem bedeutenden Exporteur von Landwirtschaftsprodukten. Molkereien und Schlachtereien wurden kurz vor dem Beitritt in Rekordzeit modernisiert und mit der neuesten Technik ausgestattet. Die Qualität polnischer Milch ist hervorragend.

Natürlich gibt es immer noch die Kleinbauern, die jeden Morgen mit ihren drei Milchkannen auf dem Panjewagen zur nächsten Sammelstelle zuckeln. Aber dies ist inzwischen eine Minderheit. Die Regierung wird sich langsam sogar Gedanken machen müssen, wie sie die kleinbäuerliche Kulturlandschaft mit Panje- und Heuwagen, Hütejungen und den frei laufenden Gänseherden erhalten kann. Immerhin werden aber auch die Ökobauern mit zusätzlichen 350 Millionen Euro gefördert und können so trotz höherer Produktionskosten auf dem Markt bestehen.

Doch auch hier ist es wie so oft: Was den einen freut, ist des anderen Leid. Wenig begeistert über die gestiegenen Milch- und Fleischpreise sind die Verbraucher. Ohnehin müssen Polen im Durchschnitt rund 28 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, rund 10 Prozent mehr als Deutsche oder Österreicher. In diesen Jahr, so schätzt das Landwirtschaftsministerium in Warschau, könnten die Lebensmittelausgaben durch die Preissteigerungen nach dem EU-Beitritt auf bis zu 33 Prozent steigen.

Neben den Preisen steigen allerdings auch die Einkommen. Das kann auch gar nicht anders sein, da Polens gut ausgebildete Fachkräfte insbesondere in den westlichen EU-Ländern sehr begehrt sind. Für die Sprachausbildung ganzer Berufsgruppen sind in Polen bereits vor dem EU-Beitritt Internate und Pensionen entstanden. Hier werden insbesondere polnische Ärzte und Ingenieure in mehrmonatigen Intensivkursen mit Sprache, Sitten und Bräuchen ihres künftigen Wirkungsortes vertraut gemacht. Dann verlassen sie Polen in Richtung Schweden, Dänemark und Norwegen, Großbritannien oder Niederlande. Allmählich wird insbesondere der „weiße Export“ ein Problem für Polen. In den Krankenhäusern beginnen Ärzte und Krankenschwestern zu fehlen. „Dieses Problem müssen wir dringend lösen“, erklärte vor kurzem Gesundheitsminister Marek Balicki. „Jede Telefonistin verdient mehr als eine Krankenschwester. Das kann so nicht sein. In Zukunft werden wir sogar mehr Krankenschwestern brauchen, da immer mehr alte Menschen Betreuung und Pflege brauchen werden.“

Immer wieder rechnen die Zeitungen in Polen vor, wie viel Geld das Land bis zum Jahre 2006 aus Brüssel erhalten wird: insgesamt 11 Milliarden Euro. Die Ängste, dass das Land womöglich zum Nettozahler werden könnte, weil polnische Beamte nicht in der Lage sein könnten, sinnvolle Projektanträge zu stellen, sind inzwischen auch gebannt. Allerdings klagen insbesondere die Kommunalverwaltungen darüber, dass die Regierung in Warschau die Anträge zu langsam bearbeitet. So kommen die für Infrastrukturinvestitionen dringend benötigten Zuschüsse aus Brüssel oft erst mit mehrmonatiger Verspätung in Breslau, Lodz, Lublin oder Posen an.

Dennoch sind überall im Land die großen blauen Schilder mit dem EU-Sternenkranz zu sehen: „Hier entsteht mit Hilfe der EU eine Umgehungsstraße“ – oder eine Lärmschutzmauer, eine Kläranlage, ein neuer Bahnhof. Die blauen Schilder wecken Hoffnung. Und sie ziehen Investoren an. Dort, wo die EU investiert, geht es bergauf, ist die allgemeine Überzeugung.