Gelangweiltes Dandytum auf der Bühne: Das glimmt sehr schön
Ein Lexikon der Moden und der Künste: Alvis Hermanis inszeniert an der Schaubühne in Berlin Puschkins "Eugen Onegin". Man erfährt viel über Unterhosen.
Ein rares Gefühl: mit einem neuen Schatz an großartig unnützem Wissen aus dem Theater zu kommen. Was wusste man vor dem Besuch des "Eugen Onegin" an der Berliner Schaubühne über das Alltagsleben der besseren Gesellschaft im Russland des frühen 19. Jahrhunderts? Doch recht wenig. Jetzt aber könnte man aus dem Stand einen kleinen Vortrag darüber halten.
Man könnte beschreiben, wie die Damenunterwäsche aussah, würde hinzufügen, dass auch Männer ein Korsett trugen, wäre imstande, die Konventionen beim Umgang der Geschlechter miteinander zu erläutern, und wüsste sogar noch eine plausible Erklärung dafür, warum prüdere Zeitgenossen die geschwungenen Beine ihrer Möbel mit Überziehern zu verhüllen pflegten. Ach ja, und übrigens wusch man sich nie die Haare, sondern kratzte sich nur mitunter die Schuppen vom Kopf.
Es ist wahr, dass Alexander Puschkins Versroman "Eugen Onegin" zu einer soziologisierenden Betrachtungsweise geradezu aufruft, hält sich doch auch der Autor, der sich selbst großzügig als Erzähler in den Text einbringt, nicht mit Kommentaren zum Gesellschaftsleben zurück.
Das gelangweilte Dandytum seines Helden und die naive Emotionalität der Heldin bilden in dem sozialen Kosmos, den er entwirft, den denkbar größten Kontrast. Dieses Spannungsfeld lotet Puschkin aus, als Erzähler mit ironisch hochgezogenen Augenbrauen über seine Figuren wachend.
133 Frauen, 29 Duelle
Aber wie geht man mit dieser Uneigentlichkeit auf der Bühne um? Tschaikowski hatte, das ist die eine Möglichkeit, für seine Opernfassung des "Onegin" die Kommentarebene eliminiert. Der lettische Regisseur Alvis Hermanis dagegen beweist mit seiner Bühnenversion, dass man auch andersherum vorgehen kann, und fügt der vielschichtigen Vorlage sogar noch eine weitere Diskursebene hinzu. Puschkin (Robert Beyer) steht mit auf der Bühne. Sein Originalkommentar, Handlung und Befindlichkeiten der Personae betreffend, wechselt mit den Kommentaren, die, siehe oben, mal von Unterhosen oder der Herstellung von Duellpistolen handelt, sich aber auch mit dem Dichter selbst beschäftigt.
Wie viele Frauen Puschkin geliebt habe (133), wie viele Duelle er in seinem kurzen Leben bestritt (29), wie er aussah (angeblich war er hässlich) - ja, nach diesem Abend wissen wir auch viel mehr über Puschkin selbst.
All das ist zunächst einmal ganz inspirierend. Wenn die DarstellerInnen, die sich erst in Alltagsklamotten die Erzählerrolle zugeschoben haben, auf der Bühne umsteigen in historische Kostüme, Korsette schnüren, Perücken zupfen, und dabei von vergangener Körperhygiene zu berichten haben, so wird man ob dieser Exposition in eine angeregte Erwartungshaltung versetzt. Diese Haltung wird uns den Abend hindurch nicht mehr verlassen. Das Eigentliche aber, auf das sie gerichtet ist, wird nicht eintreffen.
Natürlich ist es ganz in Ordnung, wenn der arme Romantiker Lenski (Sebastian Schwarz), im Duell tödlich getroffen, nicht melodramatisch umkippt, sondern sich mit einer knappen Verbeugung vom Publikum verabschiedet, um sich bescheiden auf die Chaiselongue zu legen und die Augen zu schließen. Natürlich finden wir es amüsant, wenn Tatjanas Ohnmacht begleitet wird von einem historisierenden Kommentar über die Mode des In-Ohnmacht-Fallens, und natürlich ist es großartig, dass Onegin (Tilman Strauß) die hässlichste Perücke trägt, die der Fundus hergegeben hat, was seine Verführerrolle gründlich ad absurdum führt.
Das Tropfen der Melone
Und Hermanis gibt seine Figuren nicht vollends dem allwissenden Kommentar preis. Mitunter gelingen ihm Bilder von theatralischer Poesie: Tatjana (Eva Meckbach) und Olga (Luise Wolfram), von einem Albtraum aufgewühlt, im Bett unter einem Bärenfell. Zwei tropfende Melonenscheiben in Olgas Hand, als sie mit Onegin tanzt. Die düpierte Tatjana, auf der Gartenbank unter einem riesigen Haufen Trockenblumen liegend.
Das sind starke emblematische Zeichen - doch die sorgsam hergestellten Bildmetaphern sind zu sparsam gesetzt, um der Übermacht des dominierenden Diskurses eine echte theatralische Kraft entgegenzusetzen, und werden statt dessen zu einem weiteren Medium der offensiven Uneigentlichkeit. So opfert diese Inszenierung das große dramatische Potenzial von Puschkins Nichtliebesgeschichte einem letztlich zu intelligenten Diskurstheater, das zwar zuverlässig glimmt, aber niemals Funken sprüht.
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