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Geknalle mit den Einstürzenden Neubauten, FastKollisionen mit Rasern und Bettruhe vor WurzelbehandlungWenn Anstoßen wie Musik in den Ohren klingt

Ausgehen und Rumstehen

von Jenni Zylka

Daumen hoch zur Völlerei, Finger weg von Böllerei, so halte ich es. Man kann sich Feuerwerk schließlich auch weitgehend geräuschfrei und umso unterhaltsamer in YouTube-Tutorials angucken, bei denen Pyro-Knirpse mit ernsten, langsam in die Pubertät wegbrechenden Stimmen Kategorie 1-Böller testen und Preise und „Höhe des Ausstoßes“ (der Funken) vergleichen.

Geknallt hatte es vorher nämlich schon genug: Kurz vor dem kollektiven Böllertermin schauten wir im Radialsystem die „Lament“-Aufführung der Einstürzenden Neubauten an, ihr Auftragsstück über den Ersten Weltkrieg, und das war genau das richtige Ende für dieses merkwürdige Jahr. Beats vom „Kriegszitterer“ N. U. Unruh, der einen (durch ein Kriegstrauma ausgelösten) Tremor simuliert und das Zittern als Klangquelle nutzt, dazu stimmt Alex Hacke mit zwei Krücken ein, die er rhythmisch auf den Boden brettert – besser, lauter und eindrücklicher kann man Kriegsleid nicht akustisch abbilden.

Einen Tag später wurde – wie immer in der diesjährigen Zwischenzeit – Whisky auf Lemmy getrunken, und auch mit Wodka (worauf er ja längst umgestiegen war) durfte man anstoßen, ein Glück. Und am Abend vor Silvester gingen wir Burger essen ins White Trash, denn das macht ja bald eine lange Umbaupause und kommt dann hoffentlich gestärkt zurück. Bzw. gebräunt: Silvester, stellte ich fest, lässt sich ganz wunderbar unter das Motto „Palais Schaumburg“ stellen (jene Band, die „Deutschland kommt gebräunt zurück“ textete, nicht der spätklassizistische Klotz gleichen Namens in Bonn), und so versuchte ich, auf unserem Silvesterbuffet alles anzubieten, was Palais Schaumburg einst in „Madonna“ sang: „Pfirsich / Kirsche / Bürste / Gurke / Rotkohl schmeckt gut / Mädchen sind schön / Silvester war toll / Fischlein im Wasser“. Das klappte bestens, denn Cocktailkirschen sind ja auch Kirschen! Und die Bürste interpretierte ich einfach frei im Zusammenhang mit den schönen Mädchen.

Der 1. Januar wäre dann fast mein letzter gewesen, denn ein unbekannter Mann hielt mit seinem SUV direkt auf unseren Neujahrsspaziergang (inklusive Besuch) zu, als wir gerade gemütlich bei Grün über eine Fußgängerampel humpelten, der designierte Killer beschleunigte sogar und hätte mindestens drei von uns überfahren, wenn wir nicht mithilfe von Restüberlebensenergie und Adrenalin auseinandergesprungen wären. Abgesehen von dem Schock war ich wiederum begeistert, dass Palais Schaumburg auch dafür eine Zeile in petto haben: „Der Tiger an der Pampel-Ampel“ (aus „Die Freude“). Und ich hör ja schon auf, aber „Morgen wird der Wald gefegt“ passte danach ganz gut zum Kücheaufräumen.

Am Samstag klang das Anstoßen schon wieder wie Musik in meinen Ohren, und zwar in einer Kneipe, in der die Anzahl der Getränke auf den Bierdeckeln notiert werden, auf denen sie stehen, was ich einerseits faszinierend vertrauensvoll und andererseits recht entlarvend finde. Für Wasser machte die Bedienung jedoch nur ein harmloses Kreuz. Sonntag war ich immer noch ready, willing and able, und am Abend sollte Pete Doherty eine Mitternachtsshow spielen, wiederum im White Trash. Aber ach: Meine dringend zu resektierenden Zahnwurzeln machten sich bemerkbar, und das nahm ich als Wink, was sag ich, K-o.-Schlag mit dem Zaunpfahl dafür, einfach mal wieder zu Hause zu bleiben und sich auf das frühe Aufstehen zu konzentrieren. Schon klar, dass Doherty sich dagegen weder von Zähnen noch von Katern oder Sonstigem abhalten lassen und in jedem Zustand spielen würde, und das beeindruckt mich auch wirklich. Dennoch denke ich, es war die richtige Wahl. So eine dicke Backe lässt sich enorm schlecht überschminken. Selbst der neue Trend „Contouring“ hilft dabei nicht viel.

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