piwik no script img

Gehversuche

■ Südafrika im Jahr eins nach „Pretoriastroika“

Es hat nichts mit den vielbeschworenen „african Times“ (fünfe gerade sein lassen) zu tun, daß in Südafrika das neue Jahr nicht schon am 1.1. begann, sondern erst am 2.2. Genau ein Jahr ist es her, daß Staatspräsident de Klerk vor dem Parlament in Kapstadt in seiner historischen Rede die bis dato verbotenen und verfolgten Oppositionsbewegungen wieder zuließ und neun Tage später Nelson Mandela in das Licht der Öffentlichkeit trat. Ein Datum, das in der Geschichte Südafrikas ein ungekanntes Gefühl markiert: Optimismus. 1990 war das Jahr, in dem die Früchte der „stillen Revolution“, jener jahrelang praktizierten Aktionen zivilen Ungehorsams, geerntet wurden, wo die Abstimmung mit den Füßen die Apartheidpolitik mit dem Rücken an die Wand drückte. 1990 war das Jahr, in dem die Weißen endgültig mit der von ihnen deformierten Realität konfrontiert wurden, das Jahr der Wahrheit, wo für alle plötzlich die Orientierungsmuster, die Koordinaten, erschüttert wurden. Es sei die „komplette Umkehr all dessen, was für Jahrhunderte das Leben unseres Volkes bestimmte“, so Nadine Gordimer. Wer ist nun rechts, was heißt links, nicht erst seit der Sozialismus in Osteuropa scheiterte, sondern seit Angola und Mosambik? Und wie findet sich die überlebensnotwendige Mitte?

1990 war das Jahr der ungezügelten Gewalt in den Townships, letzte Grüße des Apartheid-Architekten Verwoerd aus der Gruft: divide et impera. Es war aber auch die Zeit der ersten zaghaften Gespräche, der Anfang vom Ende binären Denkens. Langsam lernt das Land zu diskutieren, ohne zuzuschlagen.

1990 war das Jahr der Demystifizierung des ANC; der Diskurs des Widerstandes mußte dem der Macht weichen, und da gab es viele Enttäuschungen über die Unorganisiertheit und taktische Schwäche des Übervaters. Während sich die Regierung de Klerk mit ihrer „Pretoriastroika“ international die Absolution erteilen ließ, zerriß sich der ANC mit seinen moderaten Tönen gegenüber der Regierung und dem radikalen Pathos gegenüber der eigenen Klientel im Spagat beinahe den Schritt.

War 1990 das Jahr der Orientierung, der „talks about talks“, dann sollten nun die Taten folgen. De Klerk und seine Mannen sind keine „Helden des Rückzugs“ im osteuropäischen Sinne. Sie wollen auch im „neuen Südafrika“ zur politischen Führung gehören. Dafür müssen sie aber mehr tun als Apartheid-Gesetze aufzuheben, sie müssen sich der Notwendigkeit gesellschaftlicher Umverteilung stellen. Der Staat als größter Landbesitzer hat gewisse Spielräume. Es geht nicht an, Hunderttausende Enteignete allein auf die Kräfte und Chancen des Freien Marktes zu verweisen.

1991 ist das entscheidende Jahr des Kompromisses, des kleinsten gemeinsamen Nenners, der zwischen „ein Mensch, eine Stimme“ und freier Marktwirtschaft liegt. In Südafrika steht alles kopf. Hier ist Demokratie „Mehrheitsterror“ und Sozialismus kein Schimpfwort. Es bedarf viel Weitsicht und auch Courage, der eigenen Klientel zu vermitteln, daß man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann. Dieses Jahr müssen zumindest Wahlmodus und Termin festgelegt werden, vielleicht kommt es auch zu einer großen Koalition als Übergangsregierung. Das wäre jedenfalls nicht das Ende. Andrea Seibel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen