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Gehenoderbleiben

Jüdische Gemeinden im Osten schrumpfen, junge Menschen ziehen nach Berlin oder Frankfurt. Was bleibt, sind überalterte Strukturen – und die Frage, ob junge Jüdinnen und Juden in Ostdeutschland eine Zukunft haben

Jüdisches Leben im Osten: Josef Schuster vom Zentralrat der Juden in Deutschland spricht beim Festakt der Jüdischen Gemeinde Schwerins zur Eröffnung des neuen Gemeinde­zentrums 2019 Foto: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Von Jana Laborenz

Als Daniella L. endlich alt genug ist, schließt das Jugendzentrum. Sie weiß noch, wie groß ihr die jüdische Gemeinde damals vorkommt und wie groß die Möglichkeiten sind – für alle, nur für sie nicht. Die Jugendlichen gehen in die Sonntagsschule. Daniella ist noch zu klein. Die Jugendlichen fahren auf Ferienfreizeiten. Daniella darf noch nicht mit.

Ihre Mutter gründet das Zentrum Ende der Neunziger für jüdische Jugendliche in Schwerin. Es ist einer der wenigen Orte, an denen sich die Jugendlichen nicht assimilieren oder rechtfertigen mussten. „Hier hatten alle einen sowjetisch-jüdischen Hintergrund“, sagt Daniella L.

Sie erinnert sich nur noch an die Tür zum Zentrum. Jemand hat darauf einen Luftballon gemalt und eine Hand, die ihn festhält.

Als sie in die dritte Klasse kommt, bleibt die Tür geschlossen – bis heute. Der Grund: Viele sind weggezogen. Nach Hamburg, Frankfurt, Berlin. Weil in Schwerin, „da gibt es nichts“, sagt sie. Yuriy Kadnykov, der Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern, erzählte im Deutschlandfunk, er müsse ständig auf den Friedhof gehen, anstatt Bar Mizwas oder Bat Mizwas zu feiern – eine Art „Jugendweihe“ für Juden und Jüdinnen.

Am Ende bleiben bei Daniella L. außer ihr nur noch zwei, drei Kinder. Auch sie wird nach dem Abitur nach Berlin ziehen.

Was in Schwerin passiert, passiert in vielen jüdischen Gemeinden. Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern. Im Vergleich zu Westdeutschland haben die Gemeinden laut Zentralrat der Juden dort deutlich weniger Mitglieder. Der Zentralrat ist die größte Vertretung der Jüdinnen und Juden in Deutschland. Die Union progressiver Juden ist deutlich kleiner und hat nur eine Gemeinde in Ostdeutschland, in Magdeburg.

Die jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland ohne Berlin haben nur etwa 800 Mitglieder mehr als die Gemeinde Frankfurt am Main allein. Schrumpfen die ostdeutschen Gemeinden, bedroht das schnell ihre Existenz. Für junge Juden ist das ein Problem. Laut Mitgliederstatistik 2023 der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland machen die 22- bis 30-Jährigen nur sieben Prozent in den Gemeinden aus. Aber wohin gehen, wenn sie jüdische Gemeinschaft suchen?

Dass es in Schwerin eine Zeit lang ein Jugendzentrum und viele Kinder gab, liegt an den sogenannten „Kontingentflüchtlingen“: Jüdinnen und Juden, die zwischen 1990 und 2005 die ehemalige Sowjetunion verließen, weil die Regierung unter Helmut Kohl das jüdische Leben in Deutschland revitalisieren wollte. Ohne sie lässt sich die Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland nicht erzählen. Erst durch die rund 220.000 Mi­gran­t*in­nen wuchs die Gemeinschaft in Deutschland nach der Schoah wieder. Der Historiker Dmitrij Belkin schreibt dazu: Hätte die Einwanderung nicht stattgefunden, gäbe es im heutigen Deutschland keine jüdischen Gemeinden jenseits der Großstädte.

Als die Kontingentflüchtlinge nach Schwerin kamen, titelte die Schweriner Volkszeitung: „Zu Hause in Schwerin – Die Jüdische Gemeinde begrüßt ihr tausendstes Mitglied“. Das tausendste Mitglied, das war Daniella L. Auf dem Foto ist sie ein Jahr alt, sitzt auf dem Arm ihrer Mutter und schaut in die Kamera. Daniellas Familie war 1986 aus der ­Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Spricht Daniella L. heute darüber, lacht sie: „Es ist interessant, wie damals über uns berichtet wurde. Endlich wieder Juden in Schwerin.“

2021 waren es nur noch knapp 600. Dass heute die Mitgliederzahlen in den jüdischen Gemeinden wieder sinken, sei leider nicht ungewöhnlich, sagt Zsolt Balla. Er ist Landesrabbiner in Sachsen und Gemeinderabbiner in Leipzig. Viele Kontingentflüchtlinge hätten ihre jüdische Identität nur auf der Geburtsurkunde stehen. Durch die starke Säkularisierung in der Sowjetunion wussten die Kontingentflüchtlinge wenig über jüdische Religion und Kultur. „Daher ist auch die Bildungsarbeit in den Gemeinden wichtig“, sagt Balla.

Trotzdem ist er sich sicher: Jüdisches Leben hat in Sachsen eine Zukunft.

Das gilt insbesondere für Leipzig. Katrin I. ist der Beweis. Schon als Kind probierte sie in der jüdischen Gemeinde Leipzig ungefähr jedes Hobby einmal aus. Sie singt im Chor, spielt Klavier, nimmt am Kunstunterricht teil, fährt auf Ausflüge. Heute ist sie 24 Jahre alt, seit 2019 hilft sie beim wöchentlichen Schabbat und an Feiertagen. Deckt den Tisch, lädt Leute ein, überlegt sich Spiele für die Abende.

Wie sie engagieren sich auch andere – die Gemeinde wächst. Auch „weil das Angebot niedrigschwelliger wird, von jungen Menschen für junge Menschen“, sagt sie. Die Besucher werden ­diverser. Während früher viele russischsprachig aufgewachsen sind, ändert sich das. „Wir haben jetzt viele internationale Studierende. Hauptsächlich sprechen wir weder Deutsch noch Russisch noch Hebräisch, sondern Englisch.“

Leipzig ist die ostdeutsche Stadt, die seit 1996 am stärksten wächst. „Ich habe das Gefühl, dass Leipzig besonders ist“, sagt Katrin I. Die Gemeinde vereine viele Perspektiven, von orthodox bis nicht religiös.

Inzwischen arbeiten für die Gemeinde drei studentische Hilfskräfte. Eine davon ist Katrin I. Angestellt sind sie bei Hillel, einer jüdischen Bildungsinitiative, die Gemeinden unterstützt. „Vor fünf Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen“, sagt sie. Doch obwohl die Gemeinde wächst, fehlt in der Stadt das jüdische Angebot. Anders als in München, Frankfurt am Main oder Berlin gibt es keine jüdischen Schulen, keine Kindergärten, keine koscheren Restaurants und Lebensmittelläden.

Katrin I. erzählt, sie pendle gerade viel zwischen Leipzig und Berlin, „weil ich dort koscher einkaufen kann oder wenn ich mal einen schönen Abend verbringen möchte in einem Restaurant“. Andere Gemeindemitglieder haben Kinder, die nach Berlin zur Schule pendeln. „Wenn man ein religiöses oder ein kulturelles jüdisches Leben führen möchte, dann wird man früher oder später in eine der größeren jüdischen Städte ziehen.“

Dass das Angebot in Westdeutschland besser ist, hat auch historische Gründe. Nach 1945 gab es dort einen wirtschaftlichen Aufschwung, das wirkte sich auch auf die finanzielle Unterstützung der Gemeinden aus. In der DDR war das anders – die wirtschaftliche Lage war schlecht, in die Gemeinden floss kaum Geld. Die DDR verstand sich zwar als „antifaschistischer“ Staat, antisemitische Vorfälle verschwieg sie aber. Spätestens ab 1950 nahm antisemitische Propaganda zu. Seitdem verbot die SED kulturelle Veranstaltungen, verhörte Vorsitzende jüdischer Gemeinden und verlangte Mitgliederlisten. 400 Juden verließen 1953 die DDR – auch fünf der insgesamt acht Gemeindevorsitzenden.

Um junge Juden und Jüdinnen in Ostdeutschland auch außerhalb von Leipzig und Berlin zu erreichen, hat Alexander Tsyterer im Oktober 2023 JAM gegründet, die „Jüdische Allianz Mitteldeutschland“. Der Verein wendet sich an Leute zwischen 18 und 35, die eine junge jüdische Community suchen, und ist in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder Thüringen aktiv.

Alexander Tsyterer will zeigen: Es gibt vielfältiges jüdisches Leben in Ostdeutschland. Zumindest ist der 21-Jährige aus Chemnitz gerade dabei, es aufzubauen. „Junge Menschen verschwinden am Ende“, befürchtet Tsyterer. Er will die Community öffnen – auch für Menschen, die nicht religiös sind und für Kinder jüdischer Väter und Großeltern, die nach jüdischem Religionsgesetz nicht jüdisch sind. Viele Gemeinden akzeptierten sie ohne jüdische Mutter nicht als Mitglieder. „Wir können uns das nicht erlauben, da wir in Ostdeutschland so wenige sind“, sagt Tsyterer.

Wie wichtig Gemeinschaft ist, lässt sich an David sehen. Er muss aus einer kleinen Gemeinde in Ostdeutschland nach Leipzig fahren und möchte ­anonym bleiben. Das Problem in seiner Gemeinde: „Ich mag ältere Menschen, aber ich bin jung, und sie sind alt – und sie wissen es, und ich weiß es.“

„Ich mag ältere Menschen, aber ich bin jung, und sie sind alt – und sie wissen es, und ich weiß es“

David, Mitglied einer jüdischen Gemeinde außerhalb von Leipzig

Es sei eine schwermütige Atmosphäre, auch weil der Mangel an jungen Leuten das Aussterben der Institution ankündige, sagt er. Hinzu kommt, dass die meisten Mitglieder untereinander nur Russisch sprechen. „Es fällt mir schwer, mit vielen in Kontakt zu treten, weil ich kein Russisch kann.“

Dass in Davids Stadt die meisten Leute nicht wissen, dass es eine Gemeinde gibt, sei auch gewollt. Die Gemeinde legt keinen Wert darauf, sichtbar zu sein, auch weil die Angst sehr groß sei. „Es gibt einfach eine krass latente Bedrohung durch Rechtsextremismus. Hier sind Hunderte untergetauchte Rechtsextreme unterwegs, im Zweifelsfall bewaffnet – und das sind die Bedingungen, unter denen jüdisches Leben hier stattfindet.“

David fürchtet, dass „der Rechtsextremismus das demografische Problem überholt.“ Die Meldestelle RIAS Sachsen, die für 2023 deutschlandweit antisemitische Vorfälle erfasst, führt Sachsen und Thüringen als „Spitzenreiter“.

David weiß nicht, ob es in zehn Jahren überhaupt noch Juden in Ostdeutschland gibt. „Ich würde sofort meine Sachen packen, wenn es hier eine AfD-Regierungsbeteiligung gibt.“ Daher hält er es für unwahrscheinlich, dass junge Menschen in seine Stadt ziehen. Leute, denen ein jüdisches Gemeindeleben wichtig sei, blieben nicht hier.

David bleibt. Sein Zuhause sei die Gemeinde hier aber nicht – schon eher Leipzig. Wenn er dort ist, trifft er auch junge Menschen, die seine Sprache sprechen. „Ich kenne schon ein paar, freue mich, sie zu sehen. Und das ist einfach nett.“

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