: Gegen linken Gaullismus
Karsten Voigt (SPD) warnt vor einer von den USA und der Sowjetunion entkoppelten europäischen Verteidigungskonzeption ■ D E B A T T E
Die kulturelle, wirtschaftliche und außen- und sicherheitspolitische Integration eines gesamtdeutschen Bundesstaates in eine europäische Ordnung des Friedens und der Freiheit ist die gegenwärtig wichtigste Aufgabe deutscher und europäischer Politik geworden. Eine bundesstaatliche Einheit der Deutschen, die nicht unauflösbar mit der europäischen Zusammenarbeit und Integration vernetzt würde, geriete zum Schaden Europas, aber auch Deutschlands. Die Sicherheitspolitik der neutralen Staaten in Europa ist nationalistisch organisiert. Ein neutraler gesamtdeutscher Bundesstaat liegt weder im Interesse unserer westlichen noch unserer östlichen Nachbarn. Die SPD tritt deshalb für die Überwindung der Bündnisse in einer europäischen Friedensordnung und nicht für ein neutrales Gesamtdeutschland ein.
Ziel ist ein Europäischer Sicherheitsvertrag aller KSZE -Teilnehmerstaaten. Für sie muß gelten:
-Die Friedenspflicht untereinander und nach außen sowie eine politische und militärische Beistandspflicht, die alle früheren Bündnisverpflichtungen ablöst.
-Regionale Unterbündnisse sind im Europäischen Sicherheitssystem nicht zugelassen.
-Für die Streitkräftekontingente der Mitgliedsstaaten werden Ober- und Untergrenzen festgelegt. Die Streitkräftestrukturen werden rein defensiv angelegt.
-Nuklearwaffen werden - als Schritt zur weltweiten nuklearen Abrüstung - vom Boden der Nichtnuklearstaaten abgezogen.
-Chemische Waffen werden aus Europa verbannt.
-Die USA, Kanada und die Sowjetunion sind Teilnehmer des Europäischen Sicherheitssystems. Zusätzlich zu ihrer Mitgliedschaft im Europäischen Sicherheitssystem übernehmen sie die Rolle von Garantiemächten. Dafür stellen sie in Europa Streitkräfte zur Verfügung.
-Der Geltungsbereich des Europäischen Sicherheitssystems erstreckt sich vom Atlantik bis zum Ural unter Einschluß der angrenzenden Seegebiete und Binnenmeere.
Der in den letzten Jahrzehnten Europa stabilisierende antagonistische Multilateralismus muß durch einen neuen kooperativen Multilateralismus überwunden werden. Kern eines gesamteuropäischen Multilateralismus sind der KSZE-Prozeß und die Wiener Verhandlungen.
Die in der CDU insbesondere von Alfred Dregger und Karl Lamers und in der SPD zum Beispiel von Heidi Wieczorek-Zeul und Florian Gerster unterstützte Konzeption einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft ohne Einbeziehung der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten würden meiner Meinung nach keinen sinnvollen Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Europäischen Friedensordnung darstellen. Die an de Gaulle erinnernde Konzeption einer von den USA und der UdSSR entkoppelten europäischen Verteidigungsunion würde im Gegensatz zu den Intentionen ihrer linken Befürworter das Streben nach einer militärischen Großmachtrolle der Europäer begünstigen: Die britischen und französischen Nuklearwaffen werden im Rahmen einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft zum Kern einer künftigen europäischen Atomstreitmacht.
Die Entwicklungen in der DDR haben sich derart beschleunigt, daß eine staatliche Einheit der Deutschen verwirklicht werden wird, obwohl bei den Wiener Verhandlungen und der bevorstehenden KSZE-Konferenz erst Teilelemente einer gesamteuropäischen Friedensordnung vereinbart werden können. Es werden zeitlich befristete Übergangslösungen erforderlich, die sich militärisch und politisch nur graduell und noch nicht prinzipiell von der sicherheitspolitischen Lage in Deutschland heute unterscheiden. Diese Übergangslösungen müssen gesamteuropäische Abrüstungsvereinbarungen, spezielle sicherheitspolitische Begrenzungen für Gesamtdeutschland und für spezifische Regionen Deutschlands bei gleichzeitig andauernden vertraglichen Bindungen an ein in seinen Funktionen verändertes westliches Bündnis vorsehen.
Auch Übergangslösungen können aufgrund der Gespräche zwischen den ehemaligen vier Siegermächten und den beiden deutschen Staaten nur in Kraft treten, wenn sie die Zustimmung der Sowjetunion finden.
Otto Grotewohl hat am 14.Mai 1955 beim Beitritt der DDR zum Warschauer Vertrag eine offizielle Erklärung übergeben, in der die Unwirksamkeit der Bündnisverpflichtungen für den Fall der Wiedervereinigung nachdrücklich unterstrichen wird. Bilaterale Vereinbarungen zwischen der DDR und der Sowjetunion über die Stationierung sowjetischer Truppen gelten auch nach Ausscheiden der DDR aus der WVO weiter. Es muß jetzt in den Gesprächen „Zwei-plus-vier“ im Einvernehmen auch mit der Sowjetunion geklärt werden, welche Zahl sowjetischer Truppen wie lange in welchem vertraglichen Rahmen in einem gesamtdeutschen Bundesstaat weiterhin auf dem Territorium der bisherigen DDR stationiert bleiben. Deutsche Politiker sollten keine Sicherheitspolitik unterstützen, die dazu führen würde, daß an der Westgrenze Polens Truppen der Nato stationiert werden.
Übergangslösungen sollten folgende Grundsätze berücksichtigen:
1. Deutsche und ausländische Truppen werden drastisch reduziert. Die Bundesrepublik verzichtet dauerhaft, völkerrechtlich verbindlich auf ABC-Waffen. Der Verzicht auf ABC-Waffen wird Teil einer künftigen Verfassung eines gesamtdeutschen Bundesstaates.
2. Amerikanische Bündnistruppen bleiben auf dem Boden der bisherigen Bundesrepublik, sowjetische auf dem Boden der bisherigen DDR stationiert.
Nicht nur die Sowjetunion, sondern auch Polen ist daran interessiert, daß in den nächsten Jahren eine begrenzte Zahl sowjetischer Truppen in Deutschland stationiert bleiben.
Nicht nur Westeuropa, sondern auch die östlichen Nachbarn Deutschlands und die Sowjetunion sind daran interessiert, daß die USA durch ihre sicherheitspolitische Präsenz zur Stabilität in Europa beitragen. Mit dem KSZE-Prozeß und im Rahmen der Wiener Verhandlungen hat die Sowjetunion diese Präsenz akzeptiert.
3. Es wird festgelegt, daß keine Stationierung und kein Einsatz von Einheiten der Bundeswehr auf dem Gebiet der bisherigen DDR erfolgen darf. Auf diesem Gebiet werden je nach Wunsch der Bevölkerung in der DDR entweder Verbände einer defensiven deutschen Territorialverteidigung oder einer Bereitschaftspolizei stationiert.
4. Das französische Beispiel einer nationalen Verfügung über militärische Potentiale ist für die Bundeswehr kein geeignetes Vorbild. Die bisherige Bundeswehr bleibt weiterhin gleichberechtigt in die multilateralen Strukturen der Nato integriert. Die mulitlaterale Einbettung der militärischen Potentiale der Deutschen ist ein historischer Fortschritt, der nicht durch das Streben nach sicherheitspolitischer Souveränität gefährdet werden darf.
5. Die Nato verringert schrittweise ihre abwehrende Funktion gegenüber der Sowjetunion. Sie übernimmt neue kooperative Funktionen. Bei Abrüstungs- und Verifikationsvereinbarungen, und damit bei der Organisierung einer blockübergreifenden Sicherheit in Europa.
6. Die Nato gibt ihre bisherige Strategie der flexible response auf. Alle Nuklearwaffen werden vom Boden Deutschlands abgezogen.
7. Zugleich wird der Einstieg in ein Europäisches Sicherheitssystem eingeleitet. Die KSZE-Teilnehmerstaaten bilden dafür einen gemeinsamen Sicherheitsrat.
Diese Übergangslösungen stellen eine sicherheitspolitische und abrüstungspolitische Verbesserung gegenüber der bestehenden Lage im geteilten Deutschland dar. Sie sehen aber noch unterschiedliche Regelungen für die bisherigen Gebiete der Bundesrepublik und der DDR vor. Dies ist für die Deutschen unbefriedigend und auf Dauer unerträglich. Die Deutschen müssen aber bereit sein, im Prozeß ihrer staatlichen Einigung sicherheitspolitische Übergangslösungen zu akzeptieren, die das primäre Interesse unserer Nachbarn an einer multilateralen Einbettung Deutschlands berücksichtigen, auch wenn dabei das legitime Interesse der Deutschen an einer staatlichen Einheit ohne eine regionale sicherheitspolitische Differenzierung seines Territoriums nicht sofort befriedigt werden.
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