■ Gegen die türkische Paranoia: Bewährungsprobe
Gegen die
türkische Paranoia
Bewährungsprobe
Wieder sind dunkle Mächte am Werk. Innere und äußere Feinde des Landes wollen die Türkei destabilisieren, das Land teilen. Sie schüren den Konflikt entlang den ethnischen und religiösen Bruchlinien in der Gesellschaft, sie schüren den Konflikt zwischen Türken und Kurden, Laizisten und Religiösen, Alawiten und Sunniten. Doch die Frage, warum diese Bruchlinien so heiß sind, daß schon eine kleine Lunte ein großes Feuer entfachen kann, wird nicht gestellt. Das türkische System reagiert auf Unruhen, auf Widerstand und auf Protest ähnlich wie ein Diktatur, mit Problemverdrängung, rhetorischen Floskeln und Komplotttheorien. Die Türkei hat sich mittlerweile dank eines sich mit allen Mitteln an die Macht klammernden Systems zu einer paranoiden Gesellschaft entwickelt.
Die Folgen werden immer dramatischer. Konfliktforschung wird nicht mehr betrieben. Denn die Ursachen der Konflikte sind nicht bei den Feinden der Türkei, die es sicherlich auch gibt, zu suchen, sondern im eigenen System. Ein Land, das seit Jahrzehnten seine eigene Geschichte, seine eigenen verschiedenen Gesichter leugnet und in Wirklichkeit bestehende Unterschiede künstlich und mit Gewalt gleichstellen will, ist nicht auf Bürger, sondern auf Untertanen angewiesen, die jederzeit bereit sind, die eigene Kultur, Weltanschauung und Herkunft zu verdrängen.
Ein solches System produziert früher oder später Gewalt. Diese Gewalt ist dann freilich mißbrauchbar. Die „kurdische Arbeiterpartei“, die PKK, mißbraucht die berechtigte Reaktion der Kurden gegen die Unterdrückung ihrer Kultur und Identität für die eigene irgendwo zwischen Nationalismus und Stalinismus angesiedelte Ideologie und zur Anwendung von willkürlicher Gewalt. Die PKK wiederum wird von einigen Nachbarstaaten der Türkei als außenpolitisches Druckmittel gegen die Türkei eingesetzt. All diese Zusammenhänge ändern aber nichts an der Tatsache, daß der türkisch-kurdische Konflikt eine historische Dimension hat, die eindeutig bis zur Entstehung der modernen Türkei aus dem osmanischen Vielvölkerstaat in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts zurückreicht. Mit Parolen wie „Die Türkei ist unteilbar“ oder „Wir sind alle Brüder und Schwestern“ wird man keine einzige Wunde heilen, die die Modernisierung in der Türkei den Menschen unterschiedlicher religiöser und ethnischer Herkunft zugefügt hat.
Der Einheitswahn kann nur mit Gewalt verteidigt werden. Er verhindert auf alle Zeiten die Errichtung eines Rechtsstaates in der Türkei. Das politische System ist kaum noch in der Lage, die Türkei mit legalen Mitteln zu regieren. Wie kann man es sonst erklären, daß in einigen Provinzen der Türkei der Ausnahmezustand nun seit siebzehn Jahren ununterbrochen besteht, daß die türkische Armee gezwungen ist, das eigene Territorium zu bombardieren?
All diese türkischen Fragen sind inzwischen zu deutschen Problemen geworden. Ereignisse in der Türkei springen nach Deutschland über.
Unter der angespannten Situation in der Türkei leiden auch zunehmend die Türken in Deutschland. Sie sind nicht nur Ziel von gewalttätigen Attacken, auch das Selbstbewußtsein der Türken ist angekratzt. Ihr Herkunftsland steht seit Jahren am Pranger. Die Politiker in Ankara fordern von ihnen Solidarität. Türkische Zeitungen übermitteln diese Botschaften meistens unkritisch. Die PKK rekrutiert unter den Jugendlichen in Deutschland Kämpfer für die eigenen Reihen und hat Deutschland längst zum Schlachtfeld Nummer zwei erklärt.
In der heutigen Situation nützt den Türken und Kurden in Deutschland kein Selbstmitleid. Sie dürfen sich vom paranoiden Charakter der Politik in der Türkei nicht anstecken lassen. Nationale Hysterie und kompromißlose Gewalt führen direkt zum Bürgerkreig. Die deutschen Türken stehen vor einer Bewährungsprobe. Die türkische Öffentlichkeit in Deutschland hat bis jetzt nicht genug Eigenständigkeit bewiesen. Der Frieden in der Türkei ist für die Zukunft der Türken in Deutschland von existentieller Bedeutung. Dabei ist es nicht nur die Aufgabe des Europaparlaments, sondern auch die Aufgabe von kritischen türkischen Bürgern, auf die Regierung in Ankara den nötigen Druck auszuüben, damit durch eine durchgreifende Reformierung und Demokratisierung des türkischen Systems der endgültige Sturz des Landes in die Diktatur oder in den Bürgerkrieg verhindert werden kann.
Die türkische Öffentlichkeit in Deutschland hinkt der Öffentlichkeit in der Türkei hinterher, was ihr Engagement für politische Veränderungen in der Türkei angeht.
Es drängt sich der Verdacht auf, daß Nationalgefühle und patriotische Gesinnung der türkischen Bürger im Ausland von den politschen Machthabern in der Türkei immer stärker mißbraucht werden. Da wird schon heute, wo es in Deutschland nicht einmal vierzigtausend wahlberechtige Bürger türkischer Herkunft gibt, von Lobbyismus und von türkischen Kolonien im Ausland gesprochen.
In der Türkei dagegen fordern viele Bürger, Arbeiter, Intellektuelle und Unternehmer schon seit Jahren politische und gesellschaftliche Reformen. Nach dem Putsch von 1980 gab es trotz massiver Unterdrückung verschiedene Formen des zivilen Protestes gegen die Willkürherrschaft der Militärs. Diese Formen des lagerübergreifenden Protestes und des Widerstandes haben die politische Öffnung und die teilweise Demokratisierung der Türkei in den achtziger Jahren ermöglicht. Vorschläge für Verfassungsänderungen, für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts, für eine Entideologisierung des Staates und Stärkung des Bürgers liegen auf dem Tisch. Es gibt nicht nur ideologische Verhärtungen, sondern auch einen regen intellektuellen Austausch zwischen den unterschiedlichen Weltanschauungen und Aufrufe für ein friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben in einem pluralistischen System. Zafer Șenocak
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