: Gefühlte Stimmung: Grau
Rot-Rot ist die befürchtete Regierung der Spaltung geworden. Aber nicht Ost gegen West, sondern Genossen gegen Kollegen
aus Berlin ROBIN ALEXANDER
Wer einen Eindruck bekommen wollte, wie gestritten wurde, als Politik noch Weltanschauung war, schaute im Januar vor einem Jahr auf Berlin. SPD und PDS bildeten einen Senat, und die Hauptstadt schien jäh aus dem 21. Jahrhundert ins gerade vergangene Zeitalter der Ideologien zurückzustürzen. Ein Bündnis, das „den Zentralbegriffen Sozialismus und Demokratie neue Perspektiven eröffnen soll“, begeisterte sich der Rhetoriker Walter Jens. Auf der anderen Seite beschwor Christoph Stölzl (CDU) Volksfrontgefahr: „Heute sperrt die Sozialdemokratie dem Kommunismus die Tür zur Macht in Deutschland wieder auf.“
Ein Jahr später ist man nicht im Sozialismus gelandet, sondern wieder in der Gegenwart. Die sieht trist aus im Januar 2003: Die Bevölkerung fügt sich fatalistisch in einen drohenden Streik von Müllmännern, Kindergärtnerinnen und Busfahrern, denen der Senat unter keinen Umständen eine Lohnerhöhung zahlen will. Das Land ist – noch schnell vor der bundesweiten Tarifeinigung im öffentlichen Dienst – aus dem Verband der öffentlichen Arbeitgeber ausgetreten und will seinem Personal sogar ans Weihnachts- und Urlaubsgeld. Im neuen Jahr erhöhte der Senat seinen Lehrern die Unterrichtszeit um bis zu vier Stunden, um schon beschlossene Neueinstellungen doch nicht vornehmen zu müssen. Dabei sind in Berlin 296.500 Menschen (17,5 Prozent) arbeitslos, so viele wie seit dem Ende der Weimarer Republik nicht mehr.
Das Image des fröhlichen Homosexuellen Klaus Wowereit (SPD) und der linksverlässlichen PDS ist verflogen: Die gefühlte Farbe der Koalition ist weder der Gay-Pride-Regenbogen noch ein kräftiges Dunkelrot, sondern Grau. Auf eine Bilanzpressekonferenz zum einjährigen Jubiläum seiner Koalition verzichtet der Regierende Bürgermeister lieber gleich. Selbst die antikommunistische FAZ ödet die Feindbeobachtung mitlerweile an: „Warum Rot-Rot so langweilig ist.“
Fragen wir einen, der zwölf Jahre damit verbracht hat, die Voraussetzungen für diese Koalition zu schaffen: Harald Wolf, 46, Ex-Linksradikaler, Ex-Westgrüner, Ex-PDS-Fraktionschef, von Unternehmern als „Trotzkist ohne Krawatte“ gefürchtet, gibt seit der Amtsflucht von Gregor Gysi den sozialistischen Wirtschaftssenator. Was ist Rot an Rot-Rot, Herr Wolf? „Das rot-rote Projekt ist, durch Strukturreformen die Sanierung des Landeshaushaltes zu erreichen, die wiederum politische Handlungsspielräume für soziale Politik eröffnet.“ Im PDS-Parteijargon nennen sie diese Art der Argumentation den „Wolfschen Intelligenzansatz“. Und zweifeln mittlerweile, ob Wolf die DDR-sentimentalen Kernmilieus der PDS nicht überfordert mit Erklärungen wie: „Die Streichung der Anschlussförderung des sozialen Wohnungsbaus bedeutet konkret zwar Mieterhöhungen, strategisch jedoch einen Angriff auf das ökonomische Herzstück des alten Westberlin.“
Nur noch 10 Prozent der Berliner wollen nach aktuellen Umfragen PDS wählen. Gregor Gysi hatte vor einem Jahr noch 22,6 Prozent erreicht, mit der Methode: immer das Herz am linken Fleck und manchmal der Pointe näher als den Möglichkeiten. Wolf jedenfalls sieht sich nicht verantwortlich für die Enttäuschungen von Erwartungen, die er nicht geweckt hat: „Ich habe im Wahlkampf gesagt: Es geht darum, zwölf Jahre nach dem Abschied vom Osterliner Staatssozialismus den Abschied vom staatswirtschaftlichen System Westberliner Prägung zu organisieren.“
Da ist etwas dran. Bei Rot-Rot geht es sehr wohl um Sozialismus. Und zwar um seinen Abbau. Wenn hier eine historische Allegorie greift, dann nicht die linke Revolution, sondern Perestroika. Westberlin hat mit staatsabhängiger Wirtschaft und überdimensioniertem öffentlichem Sektor 1989 mehr als ein ganzes Jahrzehnt überdauert. Nun hat es seinen Gorbatschow im Kleinformat gefunden: Ausgerechnet Klaus Wowereit, 50, der ein Leben im öffentlichen Dienst Westberlins verbrachte, räumt jetzt mit seinen alten Kollegen auf.
Mit Ver.di hat Wowereit über einen so genannten Solidarpakt verhandelt, aber nie wirklich auf die Einsicht der Gewerkschaft gebaut. Er will mit Gewalt 500 Millionen Euro einsparen – bei den Personalkosten, die fast so hoch sind wie die gesamten Berliner Steuereinnahmen. Dafür ist Wowereit jedes Mittel Recht: Spott über „die Beamten“, Häme vor laufenden Kameras, einseitige Kürzungen, sogar Arbeitszeiterhöhungen. Wenn er könnte, würde Wowereit den Ämtern im Winter die Heizung abstellen, um seine Beamten und Angestellten mürbe zu machen.
Rot-Rot ist tatsächlich die befürchtete Regierung der Spaltung geworden. Aber es geht nicht Ost gegen West, nicht links gegen rechts und nicht unten gegen oben. Die Fronstellung im rot-roten Berlin verläuft eindeutig: Genossen gegen Kollegen. In nur einem Jahr hat man sich so ineinander verkeilt, dass eine Lösung des Konflikts ohne Gesichtsverlust undenkbar erscheint. Offen ist, wer am Ende verliert: Der linke Senat oder die größte Gewerkschaft der Stadt. Oder beide.
„Ich würde auch gerne Schönwetterpolitik machen. Es ist aber gerade kein schönes Wetter in Berlin“, erklärt Klaus Wowereit lakonisch. Das stimmt nicht ganz: Es scheint diesem Regierenden Bürgermeister beinahe Freude zu machen, Menschen unangenehme Notwendigkeiten notfalls auch brutal beizubringen.
In Berlin wird jetzt härter regiert als unter Wowereits ausgleichendem Vorgänger Eberhard Diepgen (CDU). Was der Chef kontrollieren kann, hat er im Griff: die Vereinigung von SFB und ORB zu einem gemeinsamen Sender, die Verhandlungen um den Bau eines neuen Flughafens oder Investorengespräche. Aber auf Diskurse, die er nicht hundertprozentig steuern kann, lässt sich Wowereit nicht ein: Er fühlt sich in der Öffentlichkeit permanent schlecht behandelt und hat sein ursprüngliches Regierungsziel, den „Mentalitätswechsel in Berlin“, wohl aufgesteckt.
Gefahr droht den rot-roten Strategen aus zwei ganz unterschiedlichen Ecken: Erstens: Ein Teil der bisher senatsloyalen PDS-Fraktion könnte, zermürbt von der schwierigen Realität, irgendwann Zuflucht beim diffusen Gefühlssozialismus der PDS-Bundesvorsitzenden Gabi Zimmer suchen. Zweitens: Noch immer besitzt Berlin eine Staatsbank mit faulen Krediten, deren Controlling nicht funktioniert. Rot-Rot hat gegen Proteste nahezu aller gesellschaftlicher Gruppen eine Risikoabschirmung von 21 Milliarden Euro übernommen. Die Krise der Bank hat Rot-Rot vor gut zwei Jahren erst möglich gemacht, ihren endgültigen Bankrott würde auch das Linksbündnis nicht überstehen.
Heute fände Rot-Rot bei Wahlen keine Mehrheit mehr. Aber Wowereit ist, trotz schlechter Schlagzeilen, noch immer beliebt. Seit seinem öffentlichen Coming-out vor fast zwei Jahren hat der Regierende fast konstant gute Beliebtheitswerte. Identifikationsobjekte dürfen immer nur an einem Punkt von der Masse abweichen. Diese Funktion erfüllt bei Wowereit, dem man den Berliner aus hundert Meter Entfernung ansieht, die Homosexualität.