: Gefühle im Overkill
Mehr als nötig ins Schmierenfach hineingeschlittert: Familiendramen-Experte Michael Thalheimer inszeniert am Thalia „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O‘Neill
von Karin Liebe
Die Hoffnung ist hier nicht zu Hause. Das sieht man auf den ersten Blick. Ganz nackt und nach hinten offen hat Olaf Altmann die Bühne gelassen, im hintersten Eck ein Tisch, darauf eine ganze Armada an Schnapsflaschen, drumherum ein paar Stühle. Dort sitzt und steht die vierköpfige Familie Tyrone. Wie festgefroren die Gesichter. Und auch als sich ihre Münder zum Reden öffnen, sieht keiner den anderen an, alle sprechen vor sich ins Leere.
Die Einsamkeit ist hier zu Hause, trotz der idealtypischen Familienkonstellation aus Vater, Mutter, zwei Kindern. Bei Eugene O‘Neills radikal autobiographischem Stück Eines langen Tages Reise in die Nacht bleiben alle Familienmitglieder isoliert voneinander und geben sich allein der Sucht hin: Vater James und die beiden erwachsenen Söhne Jamie und Edmund saufen, die Mutter spritzt sich Drogen.
Das Drama beschreibt einen Tag im Jahr 1912 im Sommerhaus der Familie, als die Mutter gerade aus dem Sanatorium entlassen worden ist. „Geboren aus frühem Schmerz, geschrieben mit Blut und Tränen“ – so charakterisierte der amerikanische Dramatiker Eugene O‘Neill seine Gefühlswelt beim Verfassen der 1956 posthum uraufgeführten Tragödie.
Schmerz und Tränen hat auch Regisseur Michael Thalheimer, Spezialist für Familiendramen, in O‘Neills Aufarbeitung seines Kindheitstraumas literweise hineingegossen. Da wird gebrüllt, was die teils tuberkulösen Lungen hergeben, da wird sich vor Schmerz gekrümmt, da wird im Überschwang von Hass und Wut ein Stuhl zu Kleinholz gekloppt, da fliegen die Flaschen mit Karacho vom Tisch.
Emotionen hoch drei. Peter Kurth läuft als cholerisch-geiziges Familienoberhaupt aus Wut über seinen angeblichen Versager-Sohn Jamie so puterrot an, dass man versucht ist, einen Arzt ins Theater zu rufen. Doch im nächsten Moment ist Kurths Gesichtsfarbe wieder rosig-frisch, arrogant lächelnd hebt er das Kinn in die Luft. Er mimt eben einen erfolgreichen Schauspieler, der selbst im Privatleben seine Emotionen theatralisch inszeniert.
Und auch der älteste Sohn Jamie gehört dieser Zunft an, wenn auch lange nicht so erfolgreich: Grässlich pathetisch schlägt sich Peter Moltzen die Hände vors Gesicht. Grässlich für den Zuschauer, der leider auch versucht ist zu glauben, Moltzen selbst wäre ein eher mäßiger Schauspieler.
Dieses Risiko geht Thalheimer ein – und er schlittert mehr als einmal volle Pulle ins Schmierenfach hinein. Die Männer brüllen zu laut oder husten zu oft. Allein bei Victoria Trauttmansdorff als Mutter Mary kippt das Gefühlsgefüge nie ins Unglaubwürdige. Auch ihr emotionales Barometer schnellt zwar in Sekundenbruchteilen von Nebel zu Sonne, von Hoch zu Tief, doch es bleibt immer nachvollziehbar. Gerade noch hat sie sich in Verzweiflung über ihre Einsamkeit zu einem Klappmesser zusammengekrümmt, da steht sie schon wieder kerzengerade aufrecht und fragt kühl, ob ihr Haar auch richtig sitzt.
Diese abrupten Stimmungswechsel ziehen sich durch die ganze Inszenierung. Erst herzt sie ihren schwindsüchtigen Sohn Edmund (Hans Löw), busselt ihn ab, zupft an seinem Pullunder herum, dann packt sie ihn plötzlich hart am Kragen. Zwischen Gefühlsgier und Gefühlskälte spürt man immer die Quelle ihrer Unzufriedenheit: Es ist ihr ungelebtes eigenes Leben, das sie für die Heirat mit dem damals so attraktiven Schauspieler aufgab.
Irgendwann dreht sich die Bühne, doch es dreht sich nur das ewig Gleiche im Kreis: ein Tisch, ein paar Stühle, viele Flaschen. Ganz vorn am Bühnenrand steht eine kleine Madonnenfigur. Einmal streckt Mary, die vor ihrer Heirat Nonne werden wollte und vor lauter Schuldgefühlen längst nicht mehr beten kann, sehnsüchtig die Hand nach ihr aus. Doch schon dreht sie sich weg von ihr. Auch im Glauben liegt keine Hoffnung. Alle Beziehungen treten auf der Stelle und bleiben in Hassliebe zueinander gefangen.
Ein aussichtsloses Stück, dem Thalheimer keinen Lichtblick entlocken kann und will. Und eine Inszenierung, die einen seltsam kalt lässt. Trotz des emotionalen Overkills. Immerhin zeigt auch das Publikum Gefühle: Beim Schlussapplaus brüllt es hemmungslos Buh und Bravo durcheinander.
nächste Vorstellungen: 30. 4. + 3. 5., 20 Uhr; 1.+7. 5., 14 Uhr, Thalia Theater