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Archiv-Artikel

Gefährliche Ignoranz

Die Einstellungen der Muslime zu Staat und Gesellschaft in Deutschland werden viel zu wenig erforscht. Das fördert Verschwörungstheorien über „die Muslime“ und den Terror

Es gibt Hasspredigten in Moscheen. Nur: Was sagt das aus über die Muslime in Deutschland? Nichts

Jeder Anschlag islamistischer Terroristen in einer Großstadt des Westens belastet das Verhältnis zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft. Daran ändert auch nichts, dass Tony Blair noch am Tag der Anschläge in London klarstellte, die überwältigende Mehrheit der Muslime Großbritanniens seien gesetzestreue Bürger.

Klaus Jansen, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, klagte am Wochenende, dass seit dem 11. September 2001 zwar verstärkt islamistische Organisationen in Deutschland beobachtet und mit internationaler Hilfe ehemalige Afghanistankämpfer identifiziert würden, die muslimischen Gemeinden aber zu wenig gegen die Extremisten in ihrem Umfeld täten. Und Die Welt kommentiert: „Je mehr Attentate es gibt, desto zwingender wird ein klares Bekenntnis der hier lebenden Muslime zu Toleranz, Demokratie und westlicher Rechtsordnung. Das haben viele Muslime nicht begriffen, die in ihren Stadtvierteln islamische Parallelwelten aufziehen. Sie wissen genau, in welchen Moscheen und Wohnungen Hass gepredigt wird. Deshalb könnten sie mehr für die Sicherheit tun als alle Polizeikonzepte.“

Die Forderungen sind richtig und problematisch zugleich. Richtig, weil Terrorismus nicht allein militärisch und polizeilich bekämpft werden kann. Die Bekämpfung des militanten Islamismus wird in Europa nur gelingen, wenn die Organisationen der Muslime die Auseinandersetzung mit ihm suchen und klarstellen: Terrorismus kennt keine Legitimation. Von Milli Görüs über den Zentralrat der Muslime bis hin zum Islamrat haben in Deutschland alle relevanten muslimischen Organisationen die Anschläge in London binnen weniger Stunden unmissverständlich verurteilt. Ganz zu schweigen von den säkularen Interessenvertretungen der Migranten.

Problematisch ist die Forderung an die „vielen Muslime“, weil sie ihnen eine Mitwisserschaft und einen privilegierten Zugang zu den klandestinen Gruppen islamistischen Terrors qua religiöser Zugehörigkeit unterstellt. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu Verschwörungstheorien, wie wir sie zum Beispiel vom antisemitischen Stereotyp des zu jeder Schandtat fähigen Weltjudentums kennen. Wer diese Sackgasse vermeiden möchte, muss seine Forderung präzisieren. Er sollte wissen, welchem muslimischen Dachverband er welche Verbindung zum internationalen Terrorismus vorwirft. Welche Moschee welchen Propagandisten des Terrors oder Predigern des Hasses und des antideutschen Ressentiments eine Plattform bietet. Und welche Muslime, welches Demokratiedefizit erkennen lassen.

In der Vergangenheit ist der Nachweis am Beispiel einiger islamistischer Aktivisten und einiger Moscheen gelungen. Recherchiert wurden diese Fälle vorwiegend von Journalisten mit muslimischem beziehungsweise türkischem und arabischem Hintergrund. Sie arbeiten seit Jahren auf eigenes Risiko und eigene Kosten, angetrieben von der Sorge um den freiheitlichen Bestand dieser Gesellschaft. Dies als Erinnerung für jene, die Araber und Türken zwar schnell unter Extremismusverdacht stellen, sich aber keine Rechenschaft darüber ablegen, woher ihre Kenntnisse über die Islamismusszene originär stammen. Ohne diese Wühlarbeit hätten Innenminister Otto Schily etwa kaum genügend Beweise zum Verbot des antisemitischen Hetzblattes Vakit oder des radikalislamistischen Hizb-ut Tahrir zur Verfügung gestanden.

Die Forderung, Moscheegemeinden und Muslime sollten uns umfassender über den Extremismus in ihren Reihen unterrichten, führt in die Leere. Zum einen repräsentieren die Moscheegemeinden nur eine Minderheit der Muslime, zum anderen sind auch ihre Kenntnisse in der Regel begrenzt. Oder erinnern wir uns nach 1949 an Fälle, bei denen gewaltbereite Rassisten in Deutschland ihre Kirchengemeinden über ihre schändliches Tun informierten?

Da der Islamismus unser aller Problem ist, stellen sich ganz andere Fragen: Warum haben die Medien anders als die Nachrichtendienste bis heute so wenig unternommen, in ihren Redaktionen die notwendige sprachliche und fachliche Kompetenz zu entwickeln, um angemessen über den Islamismus informieren zu können? Und warum finden Vertreter der Communities, die seit Jahren vor der Entwicklung warnen, so wenig Gehör und werden stattdessen von deutscher Seite gern als Betonkemalisten denunziert? Eine mögliche Antwort ist: Bis heute hat der Islamismus die deutsche Öffentlichkeit kaum interessiert.

Nicht Wissen und Aufklärung ist gefragt, sondern die Pflege lieb gewonnener Ressentiments. Mit den aufgeregten Debatten der letzten Monate um Ehrenmorde, das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft, Zwangsheirat, das Erstarken des Islamismus, den wachsenden Antisemitismus und der Herausbildung brandgefährlicher Parallelwelten wurde ein Stereotyp konstruiert, das wir alle kennen. Es ist jung, männlich, südländisch-muslimisch, gewaltbereit und stellt wesentliche Grundsätze des westlichen Wertekanons in Frage. Als da sind: Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Trennung von Staat und Religion, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und der Verzicht auf Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele.

Die Forderungen nach Distanzierung der Muslime vom Terror sind richtig und problematisch zugleich

Kein Mensch wird abstreiten, dass es real existierende Exemplare dieses Stereotyps gibt. Jeder hat schon ein paar gesehen – in Berlin-Neukölln oder im Fernsehen. Nur in welcher Zahl diese Spezies Deutschland bevölkert, darüber wissen wir so gut wie nichts. Sind es hunderttausende, fünfzigtausend oder gar nur ein paar hundert?

Bislang gibt es zu all den aufgeworfenen Fragen neben einer gut geölten Empörungsmaschinerie nur relativ wertloses Häufchenwissen. Ja, es gibt Ehrenmorde. Ja, es gibt Muslime, die das für richtig halten. Aber wie viele sind es? Ja, es gibt antisemitische Hetzblätter. Ja, es gibt Hasspredigten in Moscheen. Nur, was sagt das alles aus über die in Deutschland lebenden Muslime? Nichts. Denn wir haben keine gesicherten Kenntnisse über die vorherrschenden gesellschaftspolitischen Einstellungen der in Deutschland lebenden Muslime.

Wir wissen nicht, wie viele Muslime mit den Terroranschlägen sympathisieren oder antisemitische Vorurteile pflegen. Wir wissen nicht, wie viele der Muslime sich zu Toleranz, Demokratie und westlicher Rechtsordnung bekennen. Sind es mehr als in Ostdeutschland oder in Westdeutschland? Gibt es gravierende Unterschiede zwischen den Gesellschaftsbildern von Muslimen aus subproletarischen Schichten und ihrem Pendant auf deutsch-christlicher Seite? Differenzen zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Angehörigen der Mittel- oder der Oberschicht? Wie sieht es mit den Gemeinsamkeiten von Allmachtfantasien und Totschlagfantasien aus? Und der Bereitschaft, Extremisten in den eigenen Reihen zu dulden? Es sind viele Fragen offen, für die Sozialwissenschaften bleibt viel zu tun. EBERHARD SEIDEL