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■ Gefährden die Nationalreligiösen Israel? Ein Gespräch mit Gideon Freudenthal über Talmud und ÖkonomieDie Rhetorik der Gewehre

taz: In Deutschland wurden die Wahlen in Israel behandelt, als ob der Friedensprozeß zur Abstimmung stünde. Wie sehen Sie das?

Gideon Freudenthal: Viel wichtiger ist, daß die Wahlen die innere Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft widerspiegelten und zum ersten Mal die religiösen Parteien großen Zulauf bekamen. Die orientalischen Juden haben mehrheitlich die Shas gewählt. Wobei das aber nicht unbedingt Stimmen waren, die gegen den Friedensprozeß sind. Das hat eher etwas mit ihrer Identität zu tun. Ob der Friedensprozeß wirklich weitergeht, weiß ich nicht.

Meines Erachtens war die eigentliche Botschaft der Arbeitspartei: moderne Kompromißbereitschaft auf Grundlage von Verträgen, von Import und Export, von High-Tech, der Schaffung eines einheitlichen Arbeits- und Warenmarktes. Die nationalistische Variante, auf alte Herrschaftsmethoden mit Militär und Polizei zu bauen, vertritt der Likud.

Das hat Peres in seinem Buch „Der neue Mittlere Osten“ dargelegt: Anbindung an die EU, Export von Produktionsmitteln und High-Tech-Waren, die arabische Welt dient als Reservoir für billige Arbeitskräfte.

Letztes würde ich nicht so sehen. Ich glaube nicht, daß die Arbeitskräfte von Interesse sind. Das ist auch der Grund, warum die Peres-Fraktion für die ökonomische Entwicklung des arabischen Raums eintritt. Sonst gibt es keine Märkte dort. Israel hat dem ägyptischen Fellachen nichts zu verkaufen. Er ist uninteressant vom Standpunkt der israelischen Exportindustrie. Interessant ist eine sich entwickelnde moderne Ökonomie in den arabischen Staaten, die von Israel moderne Technologie kaufen muß. Und damit diese Gesellschaft sich modernisiert, muß man Polizeiaktionen in den besetzten Gebieten unterlassen. Israel soll also nicht mit direkter Gewalt herrschen.

Sondern ökonomisch.

Ja. Der eine herrscht mit Chip und Scheckbuch, der andere mit dem Polizeiknüppel.

Ist das ein Unterschied ums Ganze? Oder ist es der zwischen liberaler Rhetorik und chauvinistischen Statements, die nur deutlicher sind?

Grundsätzlich betrachtet sind sowohl Peres als auch Netanjahu Zionisten, die Gebiete annektieren wollen. Aber ihre Politik ist doch eine sehr verschiedene. Für mich macht sich der Unterschied nicht an der Rhetorik fest, sondern an der Existenz von physischer Unterdrückung oder ökonomischer Herrschaft. Der Unterschied besteht schlicht und ergreifend in Menschenleben. Ich halte es für unverantwortlich zu sagen, das sei die gleiche Politik, nur die Rhetorik sei anders. Hier ist Rhetorik die Rhetorik von Gewehren, das bedeutet Menschenleben. Das scheint mir doch ein gewaltiger Unterschied zu sein. Auch wenn er in Maßstäben der Weltgeschichte nicht ins Gewicht fallen mag.

Zurück zur Frage der Stellung der religiösen Parteien.

Das ist ungeheuer wichtig. Die Nationalreligiöse Partei ist heute der Rechtsaußen innerhalb der israelischen Politik. Es gibt verstärkt eine religiöse Radikalisierung dieser Partei. Nicht im messianischen Sinne, das war die Entwicklung nach 1967, sondern in der Auslegung der Halacha, der jüdischen Religionsgesetze; sie wechseln immer mehr ins streng orthodoxe Lager über. Wobei sie vorher vergleichsweise liberal waren.

Und das ist so bedenklich, weil es auf der anderen Seite die Annäherung der Orthodoxie an den Nationalismus gibt. Vorher hatten sie sich weder mit diesem Staat identifiziert noch mit den Nationalisten. Diese Entwicklung wird für die kommenden Jahre bestimmend sein für die israelische Politik.

Und für die israelische Gesellschaft?

Ja. Zumal die Schichten der strengen Orthodoxie gezwungen sind, sich immer mehr in die Staatsangelegenheit einzumischen. Das schon aus dem Grunde, weil sie sich sonst nicht mehr ökonomisch halten können. Das sah man jetzt bei den Koalitionsverhandlungen daran, daß sie das Bauministerium haben wollten. Als Linker ist man da ein bißchen in der Zwickmühle. Einerseits gehören diese Schichten zu den ärmsten der israelischen Gesellschaft, sie leben in unwürdigen Verhältnissen, insofern muß man für ihre sozialen Rechte eintreten. Andererseits will man diese Existenzform nicht weiter unterstützen, daß keiner arbeitet und statt dessen auf die Thoraschulen geht.

Was die rigide Anwendung der Halacha betrifft, so haben viele Israelis davor gewarnt, daß dadurch der Rassismus – durch die Haltung zu den Nichtjuden – verstärkt werden könnte. Erst kürzlich hat Bildungsminister Rubinstein die Gelder für das Tempelinstitut in Jerusalem sperren lassen. Er begründete dies damit, daß Rabbi Yisrael Ariel den Mörder Baruch Goldstein feiere.

Das ist richtig. Aber der Vorstoß dieser Orthodoxen geht nicht in erster Linie gegen die Nichtjuden, sondern gegen die Nichtorthodoxen Juden. Also die säkularen Juden, Reformjuden und die konservativen Juden. Die machen ihnen etwas streitig innerhalb des eigenen Spielfeldes.

Sie sind für die vollkommene Trennung von Religion und Staat?

Das ist in Israel nicht so einfach. Hier ist die Situation kompliziert, weil die Definition, wer Jude ist, unmittelbar mit der Religion zusammenhängt. Die nationale Kultur ist eine religiös bestimmte Kultur – bis vor kurzem, also noch bis in dieses Jahrhundert hinein. Danach kamen neue Kräfte, die vollkommen säkular sind. Ich bin kein gläubiger Mensch. Aber ich bin Jude. Im Unterschied zu vielen meiner säkularen Freunde bin ich aber nicht in einem Kreuzzug gegen die Religion begriffen. Ich glaube, daß in den Schulen viel zuwenig jüdische Geschichte, jüdische Literatur usw. gelehrt wird.

Nicht als Religionsunterricht, sondern als Kulturgeschichte.

Genau. Natürlich möchte ich es nicht als Teil des Kanons, sondern als Teil unserer Kultur verstanden wissen. Für die Orthodoxen bin ich deshalb viel gefährlicher als die Meretzlinken. Ich will, daß meine Tochter in der Lage ist, eine Seite im Talmud zu lesen. Gefährlich bin ich, weil ich ihnen nicht das Monopol überlassen will. Ich bin gegen die Bestimmung, daß nur religiöse Lehrer dies unterrichten dürfen. Denn dies ist ein Kulturgut von unermeßlichem Wert, geschichtlich, literarisch, philosophisch etc. Es ist ein Werk, das ununterbrochen immerhin seit 1300 Jahren gelehrt und gelernt wird. Das gibt es ja sehr selten. Das ist wie mit der aristotelischen Philosophie. Da bin ich auch nicht bereit, dies einfach aus der Hand zu geben. Das wäre so, als wenn man sagen würde, Aristoteles gehört nur der katholischen Kirche und den Thomisten.

Interview: Norbert Mattes

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