Gedenken zum 8. Mai: Hanau ist auch in Hamburg
Die Morde von Hanau haben die Hinterbliebenen rassistischer Terrorakte seit den 80er Jahren zusammengebracht. In Hamburg und andernorts treten sie für ein umfassendes Gedenken am 8. Mai ein.
Als Gülüstan Avcı im letzten Dezember von einem deutschen Mann angegriffen und rassistisch beleidgt wurde, kam sie gerade von einer Gedenkveranstaltung für ihren Ehemann Ramazan Avcı, der vor 35 Jahren von No-Nazis ermordet wurde. Sie war damals, als er starb, im neunten Monat schwanger. Heute fragt sie sich, wie sie ihr Enkelkind davor schützen kann, in der gleichen Gesellschaft dem gleichen Hass ausgesetzt zu werden. Sie steht auf dem Ramazan-Avcı-Platz in Hamburg. Seit 2012 ist der Tatort zum Gedenkort geworden. Auf dem Denkmal stehen Boxen, aus denen Rap mit antirassistischen Inhalten schallt. Viele auf der Kundgebung tragen Schilder, auf denen steht, dass struktureller Rassismus in Deutschland seit 1945 Kontinuität hat.
Gülüstan Avcı ist den Aufrufen von Initiativen gefolgt, die nach dem terroristischen Anschlag von Hanau zum Gedenken am 9. Mai aufgerufen haben. Sie sagt, sie zahle hier Steuern und fordere hier Gerechtigkeit ein. „Es ändert sich nichts seit 35 Jahren“, sagt sie. „Weder auf der Straße noch auf den Behörden. Eine Entschädigung haben wir bis heute nicht bekommen.“
Der 8. Mai markiert die militärische Niederlage des Nazi-Regimes. Von einer „Befreiung“ wollen viele Teilnehmer*innen der Kundgebung lieber nicht sprechen. Allzu unwillig gehen die Behörden bei der Aufklärung rassistischer Verbrechen vor. Selbst der NSU wurde gerichtlicherseits allen Indizien zum Trotz auf einen Ring von drei Personen reduziert. Als im Februar in Hanau zehn Menschen erschossen wurden und durch die Presse schon wieder die Rede vom „verwirrten Einzeltäter“ geisterte, schlossen sich in verschiedenen Städten Menschen zu Initiativen zusammen, um auf die strukturelle Dimension des Rassismus hinzuweisen. Der 8. Mai wurde zum bundesweiten Aktionstag ausgerufen. Auch in Hamburg hieß es: Hanau ist überall.
Faruk Arslan verlor 1992 in Mölln drei Angehörige. Er fuhr im Februar sofort nach Hanau, als er von dem Anschlag erfuhr. „Es war mir wichtig, Solidarität mit den Menschen dort zu zeigen und ihr Leid zu teilen“, sagt er. „Gleichzeitig wurde uns klar, dass es Zeit ist, kollektiv aufzutreten, um den Rassismus zu stoppen.“ Daraus sei die Motivation entstanden, den 8. Mai zu einem umfassenden Gedenktag zu gestalten.
Victim Blaming als Politik
Arslan setzt sich auch dafür ein, dass der 8. Mai in Deutschland gleichzeitig ein Gedenktag für die Opfer rassistischer Gewalt in der Bundesrepublik werde. Man müsse mehr sehen als nur einzelne Geschichten, wenn man das Problem erfassen will – und eine Lösung erkämpfen. „Während eine Partei wie die AfD im Bundestag sitzt, bekomme ich monatlich 151 Euro Entschädigung“, sagt er. „Damit kann Deutschland sich nicht reinwaschen.“
Am gleichen Tag findet in Hamburg eine Gedenkveranstaltung für Süleyman Taşköprü statt, der 2001 vom NSU ermordet wurde. Candan Özer, Hinterbliebene des an den Folgen des Nagelbombenattentats in Köln verstorbenen Atilla Özer, will ebenfalls weg von der staatlichen Gedenkpolitik, die alles immer nur auf einzelne Geschichten reduziert. Schließlich wurde Atilla Özer bei den Ermittlungen als Verdächtiger geführt und trotz der 12 Nägel in seinem Kopf zur Vernehmung mitgenommen, unter Druck gesetzt. Er verlor seine Arbeit und starb mit einer Depression.
„Deutschland versucht immer wieder, die Opfer als Täter darzustellen, um sich von den Dingen reinzuwaschen, die nicht ins saubere Selbstbild passen“, sagt sie. „Sobald rassistische Tatmotive bekannt wurden, ging man über zur Rede von den geistig verwirrten Einzeltätern. Zu guter Letzt mussten die Behörden die Ermittlungsakten fürs nächste Jahrhundert vor der Öffentlichkeit verstecken.“
Zwischen Blumen und Plakaten erzählt sie, wie der Staat seither die Mörder ermutigt hat. Auch sie selbst bekommt immer wieder Drohungen. Daher geht es ihr nicht nur ums Erinnern, sondern auch darum, auf ein nach wie vor bestehendes Problem hinzuweisen. Denn auch die Gleichgültigkeit der deutschen Bevölkerung bestätige die Täter.
Gegen Abend gehen die Gedenkveranstaltungen in Hamburg zuende und die Initiativen bereiten sich darauf vor, an verschiedenen Orten der Stadt die Bilder der Ermordeten auf Hauswände zu projizieren. Dort, wo sich Semra Ertan am 24. Mai 1982 selbst anzündete, stehen noch ein paar Menschen zusammen. Die Arbeitsmigrantin und Dichterin ließ im Kampf gegen den Rassismus ihr Leben. Eine Frau ordnet die Blumen, die heute hier abgelegt wurden. Zwei Polizeibeamte mit Schutzmasken fordern die Verbliebenen auf, den Platz zu räumen: Eure Zeit ist um.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!