Gedenken im ehemaligen KZ Sachsenhausen: Der letzte Zeuge erzählt
Peter Joseph Snep ist einer der letzten Überlebenden des KZ Sachsenhausen in Oranienburg. Am 65. Jahrestag der Befreiung schildert er Schülern seine Geschichte.
Peter Joseph Snep steht von seinem Rollstuhl auf. Der 91-jährige Mann setzt seinen Stock auf den Boden, dann geht er einige Schritte über einen Steinweg und steht allein da. Einige Meter hinter ihm wartet eine Schulklasse, ein Schüler hält den Fotoapparat hoch. "Hier mussten wir marschieren", ruft Snep den Jugendlichen zu und deutet mit seinem Stock nach vorne. "Von morgens fünf bis abends sechs."
Snep steht auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen in Oranienburg. Als Zwanzigjähriger wurde er mit seinem Vater hierher verschleppt. Für die Gedenkfeiern zum 65. Jahrestag der KZ-Befreiungen ist er am Samstag wiedergekommen, genau wie rund 120 andere Zeitzeugen aus 15 Ländern.
Es herrscht eine ruhige Atmosphäre auf dem Gelände der Gedenkstätte. In einem großen Zelt sitzen junge und alte Menschen an langen Tischen und unterhalten sich in verschiedenen Sprachen. Viele Überlebende tragen die gestreiften Häftlingsmützen aus der Lagerzeit oder Armbinden mit dem roten Dreieck für "politischer Gefangener". Es ist ihr Erkennungszeichen, und sie tragen es mit Stolz.
Auch Snep trägt dieses Erkennungszeichen, bei ihm ist das kleine rote Dreieck auf blau-weißem Grund auf die Krawatte gestickt. Bei strahlendem Sonnenschein zeigt er gegen Mittag den Achtklässlern das Lager, in dem von 1936 bis 1945 über 200.000 Menschen inhaftiert waren und Zehntausende starben. Der Holländer begrüßt mit einem forschen "Tach allemal!" die Klasse in seinem holländischen Akzent und beginnt gleich zu erzählen. Er hat eine ruhige, aber kräftige Stimme.
Seine Geschichte beginnt 1921 in Bonn, dort wird Snep als Sohn eines Holländers und einer Deutschen geboren. Die Familie verlässt Deutschland 1930 und geht nach Amsterdam. Sein Vater hält Hitler "von Anfang an für einen Betrüger". Er arbeitet nebenbei als Reiseleiter. Die regelmäßigen Busfahrten seines Reiseunternehmens über die deutsch-holländische Grenze nutzt er, um deutschen Juden bei der Flucht zu helfen. "Dann fuhr mein Vater mit 37 Teilnehmern hin und mit 40 zurück", erklärt er. Bald hilft der junge Snep seinem Vater. Die beiden machen sogar weiter, als Holland 1940 von den Nationalsozialisten besetzt wird. Zwei Jahre später fliegen sie auf, werden festgenommen und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. 1943 wird er zum Arbeitseinsatz zurück nach Amsterdam geschickt und taucht dort unter - schräg gegenüber dem Versteck von Anne Frank.
"Wie war das für Sie, im KZ zu sein?", fragt ein Junge.
"Eigentlich die blödeste Antwort", sagt Snep, "ich weiß es nicht."
Der weißhaarige Mann stockt, dann sagt er:
"Was ich wirklich erfahren habe, kann ich nicht zum Ausdruck bringen, in Worte fassen."
Snep erzählt von der Hinrichtung seines gleichnamigen Patenonkels und den berüchtigten Schuhmärschen, bei denen er und seine Mithäftlinge stundenlang auf dem Appellplatz im Kreis marschieren mussten, um die Qualität von Wehrmachtstiefeln zu testen. Keine Pause habe man machen dürfen, erzählt er, notfalls musste man in die Hose pinkeln. "Laufen, laufen! Wenn einer austrat oder zusammenbrach: Genickschuss." Ein Holzkarren sei immer mitgefahren, um die Leichen ins Krematorium zu karren. Snep ist damals Leistungsturner und deshalb körperlich fit. Das habe ihm das Leben gerettet, sagt er. Mittlerweile sei er der letzte Überlebende der Schuhmärsche.
"Haben Sie niemals versucht, aus dem KZ zu flüchten?", fragt eine Schülerin.
"Denk mal, ganz ohne Haare und mit dem Anzug im großen Berlin. Da hätte ich innerhalb von fünf Minuten eine Hand auf der Schulter gehabt, und jemand hätte die Gestapo gerufen", erwidert Snep.
Die Jugendlichen, alle um die 14 Jahre alt, hören gebannt zu und nicken, wenn etwas auftaucht, das sie im Unterricht behandelt haben. Erst die letzte Klassenfahrt sei nach Krakau gegangen, erzählt die Lehrerin. Von dort aus habe die Klasse das KZ Auschwitz besichtigt.
Viele Geschichten, die der Holländer aus seiner Zeit im Lager erzählt, seien für sie unendlich weit weg, sagt ein Mädchen nach der Begegnung. "Das kann ich mir nicht vorstellen, gar nicht", erklärt sie. Auch Snep kann das mittlerweile kaum noch. "Wenn ich heute Filme oder Reportagen sehe, kann ich mir das alles selbst nicht mehr vorstellen", sagt er. "Dass Menschen so sind, scheint unmöglich."
"Haben Sie noch etwas von den Leuten gehört, die Sie gerettet haben?", fragt Marina Scharn, eine Gedenkstättenlehrerin, die das Gespräch mit den Jugendlichen betreut.
"Ein paar Briefe", sagt Snep. "Aber Sie werden es nicht glauben: Mein Vater und ich haben nach dem Krieg nie wieder über die Sache gesprochen."
Man merkt, dass Snep seine Geschichte nicht zum ersten Mal erzählt. Der ehemalige Tischler nimmt an vielen Gedenkfeiern teil, und auf der Internetseite www.zeitzeugengeschichte.de erzählt er seine Geschichte in einem Video. Es ist das 16. Mal, dass er nach Sachsenhausen zurückkommt. Ist er einmal im Redefluss, schafft es selbst die Gedenkstättenlehrerin Scharn selten, ihn zu unterbrechen. Ein Schüler hat großen Respekt: "Ich könnte das nicht", sagt einer. "Einfach so erzählen, dass mein Patenonkel erhängt wurde."
Snep aber hat keine Berührungsängste - und so ist die Begegnung mal ernst, mal unbeschwert. Fürs Foto schart er die Kinder um sich und schneidet Grimassen. "Herr Snep, schauen Sie doch einmal in die Kamera!", ruft der Fotograf. "Aber doch nicht, wenn hinter Ihnen eine so schöne Frau entlangläuft", entgegnet Snep, auf seinen Stock gestützt. Es macht ihm Spaß, mit den Jugendlichen zusammen zu sein, er genießt die Aufmerksamkeit.
"Wie war die Befreiung, als das Dritte Reich gefallen ist?", fragt ein Junge.
"Ich saß oben auf dem Speicher und habe es im Radio gehört. Dann bin ich runtergeflogen, habe geschrien: Wir sind frei! Alle sind auf die Straße gerannt", sagt Snep. Er hält kurz inne und sagt dann:
"Doch Vorsicht, Vorsicht! Ein paar fanatische SS-Leute waren ja noch da, die auf alles schossen, was sich bewegte."
Die meiste Zeit ist Snep sehr routiniert. Doch als er von der Befreiung spricht, kommen ihm die Tränen. Er trinkt kurz ein Glas Wasser - und redet weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen