: Gebt uns Zinsen für die Zeit!
Ab Sonntag wieder Winterzeit/ Gesamtdeutsche BI wird aktiv: „Nationale Zeitstiftung“ soll gewonnene „Zeitzinsen“ verlosen/ Arbeitsrechtler beraten noch ■ Von Elsa Nothing
Hamburg (taz) — Erinnern wir uns noch an den Morgen des 26. März? Millionen von Bundesbürgern fühlten sich an diesem Montag matt und zerschlagen, es fehlte ihnen an Schlaf. An einem Sonntag, der nicht 24, sondern nur 23 Stunden zählte, hatte wieder einmal die Sommerzeit begonnen.
An diesem Wochenende wird uns nun die ausgeborgte Stunde, dieses Stück vorenthaltene Leben, zurückerstattet, und Millionen von uns wird es wieder wie ein Geschenk vorkommen. Ein Geschenk? Nach neun Jahren Sommerzeit gibt uns ausgerechnet eine Initiative aus der Noch-DDR Nachhilfeunterricht in Sachen Marktwirtschaft. Für Heidi Pölzin von der in Stendal gegründeten Bürgerinitiative „Verzinsung der Sommerzeit“ ist die einbehaltene Stunde nichts anderes als ein Darlehen, das wie jedes andere verzinst werden muß. „In diesem System verleiht doch auch niemand Geld, ohne dafür Zinsen zu nehmen. Zeit ist Geld, warum sollten wir also zinslos eine Stunde unseres Lebens verleihen?“ erklärt die Betriebsrätin.
Was zunächst wie ein Witz klingt, ergibt beim näheren Hinsehen durchaus Sinn: Haben nicht Arbeiter und Angestellte eine Stunde eher als sonst ihre Arbeit abgeleistet? Haben nicht die Unternehmer ihre Gewinne eine Stunde eher verbuchen können und eine Stunde eher damit begonnen, den Mehrwert zu genießen? Fakt ist: Erwachsenen wie Kindern wurde eine Stunde ihrer Regenerationszeit sechs Monate lang vorenthalten. Für Heidi Pölzin ein eindeutiger Fall von Zinsunterschlagung. Eine überschlägliche Rechnung ergibt bei einem angenommenen Zinssatz von 6,5 Prozent und einer Laufzeit von 189 Tagen für den Einzelnen zwar nur einen Zinsertrag von 120 Sekunden, bezogen auf eine gesamtdeutsche Bevölkerung summieren sich die Ansprüche jedoch auf über 105.000 Tage. Erste Reaktionen von Politikern und Unternehmern besonders aus Deutschland-West bestätigen Heidi Pölzin die Brisanz ihrer Initiative. „Die haben echt Schiß!“ Den Streit darüber, wer den Ausgleich für nunmehr neun Jahre Sommerzeit bezahlen soll, will die erste gesamtdeutsche BI gerne den Staats- und Arbeitsrechtlern überlassen. Auf keinen Fall will man aber abwarten, bis eine höchstrichterliche Entscheidung in dieser schwierigen Frage getroffen ist. Die BI fordert bereits 1991 die Einrichtung einer nationalen Stiftung, die die Verteilung der angefallenen „Gutzeiten“ treuhänderisch übernehmen soll. Nach ihren Vorstellungen müßten die Bürger ihre Ansprüche an einen Gemeinschaftsfonds abtreten, der das angesammelte Guthaben dann einmal pro Jahr in einer großen Ausspielung als Frei-Zeit an alle Bürger verlosen soll. Wie attraktiv diese Idee ist, zeigt ein Blick auf den vorgeschlagenen Gewinnplan:
1. Preis 10 Jahre,
10 Preise à 5 Jahre,
100 Preise à 1 Jahr,
sowie ca. 1.500 Trostpreise à 1 Monat.
Je nach Lebensalter oder sozialer Situation könnten die Gewinner frühzeitig in Pension gehen, einen längeren bezahlten Urlaub antreten, die Schulferien verlängern oder den Gewinn mit einer Gefängnisstrafe verrechnen. Diese letzte Nutzungsalternative ist in der Initiative noch umstritten, die Dynamik der Bewegung ist durch solche Unsicherheiten aber kaum zu bremsen: Zwei Wochen nach der Gründung trug sich bereits das eintausendste Mitglied in die BI-Liste ein — ein ehemaliger Mitarbeiter der Stasi. Else Nothing
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