Geben und NehmenKeine Kommune, keine Genossenschaft, kein Plenum! Diahren im Wendland funktioniert wie ein Organismus: Dorf ohne Zwang
Von Anja Humburg
Der Schulbus spuckt eine Schar kreischender Kinder aus, die in die informelle Gemeinschaftsküche von Gero Wachholz laufen. Wie immer am Donnerstag hat der für gut zwei Dutzend Nachbarn gekocht: Spinatsuppe mit Parmesannocken, Kartoffel-Kohlrabi-Gratin, Salat, Klarapfel-Beeren-Sorbet. „Am Buffet regelt sich alles von selbst: Meine Gäste wissen, dass auch vom Leckersten genug für alle bleiben muss“, schmunzelt der Dorfkoch, der früher in einer WG-Kommune gelebt hat.
„Ich bin kein Dienstleister und kein Gastronom, ich lade die Leute ein, bei mir zu essen“, erzählt Wachholz. Der 55-Jährige versorgt auch sich selbst, seine Frau und seine beiden Kinder zu drei Vierteln mit Gemüse und Obst aus dem eigenen Garten. Manchmal fällt auch aus dem kleinen Bioladen der Nachbarin etwas für den Dorfmittagstisch ab. Gegengerechnet wird nicht. Damit es im Winter nicht nur Rote Beete und Kohl gibt, kauft Gero Wachholz dann auch etwas dazu. Am Ende jeder Mahlzeit legen alle etwas Geld in eine kleine Schatulle – Theaterschaffende, Künstlerinnen, Handwerker, Landwirte.
Als Wachholz vor acht Jahren nach Diahren zog, ließ er seinen Beruf als Schauspieler und Regisseur auslaufen: „Es erschien mir widersinnig, den Garten erst mit viel Liebe zu pflegen und ihn dann wochenlang sich selbst zu überlassen.“ Sein Geld verdient er als Sprecher für Radio-Jingles, die er in seinem Studio zu Hause aufnimmt. „Daran hängt nicht mein Herz, aber der Job lässt mir viel Zeit für meine Projekte.“ Nebenher spielt er Stücke für die Freie Bühne Wendland.
Diahren ist ein typisches Rundlingsdorf im Wendland – die Fachwerkhäuser stehen im Kreis und bilden eine organische Dorfmitte. In den 1990ern habe es hier gerade noch vier Landwirte gegeben, erinnert sich die 73-jährige Irene Marx, deren Familie seit über hundert Jahren in Diahren lebt. Viele seien unverheiratet und ohne Nachfahren geblieben. „Alle haben sich gut verstanden, aber die Betriebe gingen pleite oder ihre Betreiber in Rente. Das halbe Dorf stand binnen weniger Jahre leer.“ Heute sind 14 der 64 Einwohner Kinder und alle Häuser wieder bewohnt.
Das Dorf ist keine Kommune und keine Genossenschaft. Die Diahrener teilen weder Besitz, noch betreiben sie eine gemeinsame Ökonomie. Die Dinge werden nicht im Dorfplenum, sondern eher morgens an der Bushaltestelle besprochen. Und dennoch: „Wir verstehen uns als aktive Dorfgemeinschaft“, sagt der 47-Jährige Per Stüve, selbstständiger Tischler und Tenor der wendländischen Band „Stimmt so!“, der vor 14 Jahren nach Diahren zog. Viele Gemeinschaftsaktivitäten stammen aus der Vergangenheit – und weisen gleichzeitig in die Zukunft.
Hinter dem Selbstversorgergarten von Gero Wachholz suhlen sich in einer eingezäunten Bucht fünf Schweine unter alten Eichen. In ihrem Trog schwimmen Küchenabfälle und Rasenschnitt in Schafsmilchsmolke. Unter einem Dach steht das „Rote Luder“, wie Per Stüve und Gero Wachholz ihren gemeinsamen Trecker Baujahr 1954 nennen. Zusammen halten sie im vierten Jahr Schweine. Im November kommt der Hausschlachter. Das Fleisch verarbeiten die beiden Tierhalter in Gisi Kühns Käseküche zu Hackfleisch, Wurst, Schnitzel und Schinken. „Dass einer dem anderen hilft, ist in den agrarischen Strukturen angelegt“, sagt Gero Wachholz, dem ein Nachbar auch schon mal mit dem Trecker einen zentnerschweren Findling aus dem Boden gezogen hat, ohne dafür einen Kasten Bier zu wollen.
An lauen Sommerabenden wird der Scheunendachboden von Gero Wachholz zum Kinosaal. Einmal im Jahr organisiert Per Stüve einen Flohmarkt, es gibt einen Kleidertausch und ein offenes Bücherregal. Neben den Freischaffenden leben ein junges Ärzteehepaar, eine Schulleiterin und eine Lehrerin im Dorf, andere arbeiten als Angestellte im Büro oder in der nahen Kugellagerfabrik. Sie pendeln zwischen getrennten Welten, doch Teil an der Dorfgemeinschaft haben sie alle.
Während der „Kulturellen Landpartie“, deren Veranstaltungen jedes Frühjahr ganz Lüchow-Dannenberg beleben, verkaufen die Diahrener Fahrradvasen – für die Dekoration von Radlenkern – Schafskäse und Bratwurst und organisieren Dorfführungen. „Wir leben nicht in der Dorfidylle“, sagt Per Stüve. „Holzmachen ist nicht romantisch, sondern eine stinkende, laute Tätigkeit“, ergänzt sein Freund Gero Wachholz.
Alexandra und Rainer Süßmilch zogen 2010 von Berlin nach Diahren – sie hatten sich in eine kleines verfallenes Haus verliebt. In dessen Diele ist heute die Kinderkunstschule der Bühnenbilderin Alexandra Süßmilch untergebracht, wo ihre drei Kinder und andere junge Dorfbewohner an einem Holztisch mit Farben und Materialien experimentieren. Am Abend wird dorthin auch mal zu Concertina-Musik oder während der „Kulturellen Landpartie“ zu Diskussionen in Süßmilchs Salon geladen. „Es ist schön, dass sich hier nicht alle ununterbrochen über die Arbeit definieren“, sagt die 40-Jährige. Hinter dem Haus liegen Wiesen und Felder, im Baum hängt eine riesige Hängematte aus geflochtenen Weidenruten. Wie in der Gegend üblich, hat das Grundstück die Form eines Tortenstücks. Vorne spielt das Öffentliche, hinten das Private.
„Zum Dorffest schmeißt mir Per einen Zettel in den Briefkasten, dann backe ich eine Torte“, erzählt Irene Marx. Die alte Dame sitzt zum Kaffeekränzchen mit ihren Freundinnen unter der Dorflinde. Die Birnen pflückt ihr Gero Wachholz, bringt sie auch zum Mosten und stellt ihr die Flaschen später an die Tür.
Mitten in einer „strukturschwachen“ Region floriert das Leben. Von Überalterung keine Spur mehr. Und Diahren ist längst nicht das einzige Dorf in der Region, in dem das Zusammenleben funktioniert, ohne dass jemand dafür ein Konzept entwickelt oder ein Manifest verfasst hat. Die Familien funktionieren als eigenständige Organismen und verbinden sich. Aber das Tolle sei, dass man sich auch zurückziehen kann, findet Gero Wachholz.
Der Schafsmilchlikör „White Wendisch“ von Giselher Kühn, den alle „Gisi“ nennen, ist seit einer dpa-Meldung bis in den letzten Winkel Bayerns bekannt. Der 54-jährige Biolandwirt hält 25 Muttertiere – mehr will er nicht, obwohl er könnte: „Ich mache das ‚Wachse-oder-Weiche‚der Agrarindustrie nicht mit. Ich kann gut von meinen Schafen leben“. An vielen Abenden versammeln sich die Diahrener vor seinem Haus zum Klönen.
Vor dem Hof Nummer 6 stehen ausrangierte Polstermöbel, Holztische und Klappbänke. Sonntags improvisiert ein Kollektiv von sieben Menschen hier ein Café – mit selbstgebackenem Streuselkuchen, Erdbeertorte oder Schokoladengugelhupf. Gisi Kühns 90-jähriger Vater ist zu Besuch, ebenso Per Stüve, und die Süßmilchs haben Tresendienst. „Niemand gibt uns eine Garantie, dass es auch in zwanzig Jahren in Diahren noch so sein wird wie jetzt“, sagt Gisi Kühn. Zusammen mit anderen denkt er darüber nach, ein Haus im Dorf als Wohnsitz für die Alten umzubauen. Eine Nachbarin wünscht sich „viele verschiedene Lebensentwürfe bei uns, deshalb biete ich auf meinem Hof Platz für Bauwagen für Frauen und Lesben“.
Die runde Form des Dorfes fördert die Entwicklung hin zum Gemeinschaftlichen, eingebettet in eine hochpolitische Region mit vielen Visionären. Nischen für Neues konnten entstehen, weil zuvor andere den Boden dafür bereitet haben. Ein Modell für andere Dörfer oder urbane Kieze.
Die Autorinist freie Journalistin und wuchs im Wendland auf
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