Gaza-Kenner Eyad Al Sarraj: "Hamas meint Waffenstillstand ernst"
Eyad Al Sarraj ist Psychiater und Direktor des "Community Mental Health Programme" in Gaza. Von dort leitet er auch die palästinensische "Kommission für Bürgerrechte".
Dr. Sarraj, es schien eine „Hudna", ein Waffenstillstand, näherzukommen, am Montag starben wieder sieben Palästinenser und auf Israel flogen zahllose Raketen. Ist das die Eskalation vor der Ruhe oder sind die beiden Konfliktseiten nicht an einer „Hudna" interessiert?
Sarraj: Die Hamas hat über die ägyptischen Vermittler Israel ein klares Angebot gemacht und gesagt, dass sie den Waffenstillstand in Gaza beginnen will, um es später auf das Westjordanland auszuweiten. Israel weigert sich und ich bezweifle, dass die israelische Regierung ein Interesse an einer Feuerpause hat. Dementgegen meint es die Hamas ernst damit. Natürlich müsste sie intelligenter sein und die Raketenangriffe einstellen, die Israel immer wieder als Vorwand für die militärischen Vorstöße dienen.
Glauben Sie, dass die Hamas in der Lage dazu wäre, die extremistischen kleinen Gruppen zu kontrollieren, wie es Israel verlangt?
Davon bin ich überzeugt.
Wie kam es dann zu dem Mord an den beiden Israelis, die gerade dabei waren, Öl in den Gazastreifen zu liefern?
Die Hamas ist verzweifelt und ich vermute, dass der Anschlag so nicht geplant war. Es passiert gerade während der Waffenstillstandsverhandlungen. Die Angreifer tötet die Leute an der Grenze, weil die es sind, die sie erreichen können. Meistens sind es Soldaten, nicht in diesem Fall.
Man hat den Eindruck, dass die Hamas es geradezu darauf anlegt, die Not der Menschen im Gazastreifen zu verstärken, um so die Palästinenser dazu zu bringen, erneut die Grenzen zu stürmen. Warum machen die Ägypter die Grenzen nicht freiwillig auf?
Ägypten tut, was die USA befehlen. Die Regierung in Kairo könnte sich nicht gegen das fundamenalistische Regime von Georg Bush auflehnen. Und Bush sagt, wie Israel, dass mit der Hamas nicht verhandelt wird.
Die israelische Regierung behauptet, dass über eine Million Treibstoff auf palästinensischer Seite lagert, den die Hamas willentlich nicht verteilt. Wissen Sie etwas davon?
Die Hamas hat damit nichts zu tun. Die Öllieferungen werden von den Palästinensern gestoppt, die für die Verteilung zuständig sind. Ich habe mit diesen Leuten zusammengesessen. Israel hat die Lieferungen soweit reduziert, dass die Lieferanten nicht wissen, wen sie aus dem geringen Vorrat versorgen sollen und wen nicht. Ihr Streik ist ein Protest gegen Israel.
Woran mangelt es im Gazastreifen am meisten?
Das akute Problem ist der Treibstoffmangel. Viele Leute können ihre Arbeitsplätze nicht mehr erreichen oder Krankenhäuser. Die UN-Flüchtlingshilfe UNRWA hat die Nahrungsmittelverteilung eingestellt. Ich bin heute mit einem Auto gefahren, das mit Kochöl angetrieben wurde. Es roch nach Fallafel. So machen es andere Fahrer auch. Der Gestank ist überall. Natürlichen machen sie damit ihre Autos kaputt und es verschmutzt die Luft. Die Leute fühlen sich gelähmt und erstickt, weil sie sich nicht bewegen könne. Außerdem steigen die Nahrungsmittelpreise, Fleisch kostet über das Doppelte als normal, gleichzeitig haben die Leute weniger Geld.
Halten Sie es für möglich, dass die Fatach Regierung im Westjordanland einen Waffenstillstand zwischen Gaza und Israel unterminiert, weil sie den Erfolg der Hamas fürchtet?
Palästinenserpräsident Machmud Abbas hat im Friedensprozess versagt, und die Hamas hat im Krieg versagt. Beide sollten ihre Strategie ändern und wieder zusammengehen. Die USA versucht, die Hamas in die Knie zu zwingen und solche Not über das Volk zu bringen, dass es sich gegen die Hamas auflehnt. Das wird nicht funktionieren.
INTERVIEW: SUSANNE KNAUL
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