Gastkommentar: Verordnete Dummheit
■ Helmut Zachau (Grüne) fordert mehr Bildung statt weniger Wahlfreiheit
Wir brauchen mehr Chemie – stimmt; und mehr Physik – stimmt auch; mehr Wirtschaft brauchen wir sowieso; ach ja – musische und gesellschaftswissenschaftliche Fächer: seit Jahren defizitär. Und natürlich dürfen wir in Europa die Sprachen nicht vergessen. Warum merkt bloß niemand, dass wir einfach mehr Bildung brauchen?
Das aktuelle Problem der Oberstufen ist nicht mit einer Umorganisation zu lösen und auch nicht mit der Verordnung, nun bestimmte Fächer zu lernen, wie es in dem Kommentar von Klaus Wolschner (siehe taz-bremen von gesten) anklingt. Die Wahlfreiheit ist ein Mittel, um die Bildungsbeteiligung zu erhöhen, indem sie auf individuelle Interessen und Fähigkeiten eingeht. Damit wird der komplexen gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen, für die ein zentral definierter Bildungskanon nicht ausreicht. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit, kleine Kurse anzubieten, weil zukünftige Mehrheitsströmungen in der Gesellschaft heute nur als Minderheitenanliegen sichtbar sind. Wer nur Großkurse will, wird das Bestehende betonieren und künftigen Entwicklungen nicht begegnen können.
Damit sind wir beim Kernproblem: Was werden die künftigen gesellschaftlichen Bedarfe sein? Genau weiß das heute natürlich niemand. Deswegen ist eine politische Auseinandersetzung darüber notwendig. Welche gesellschaftlichen Zielvorstellungen prägen eigentlich die Handlungen der verantwortlichen Politiker? Das weiß niemand, weil die Debatte nicht stattfindet. Der Bildungssenator irrt durch das politische Minenfeld und äußert keinerlei Vorstellungen.
Welchen Stellenwert hat Bildung heute? Muss der Anteil der Abiturienten im Jahrgang erhöht werden, damit Deutschland endlich internationales Niveau erreicht oder brauchen wir nur wenige, die schneller ihr Abitur bauen, so wie es derzeit in Bremen läuft? Müssen wir nicht heute mehr Begabungs-Reserven erschließen, statt immer mehr Menschen aus dem Bildungssystem auszugrenzen? Besteht die Herausforderung der neuen Technologien darin, die Schulen damit auszustatten, oder gilt es nicht vielmehr, die durch sie bedingte tendenzielle Zerstörung der Sprach- und Ausdrucksfähigkeit zu verarbeiten?
Wir brauchen keine Technokratenreform, sondern eine Diskussion über Bildungsziele und Finanzmittel. Solange es möglich ist, ohne den ganz großen Aufschrei die zusätzlichen Verlustübernahmen für das Musical auf die fast doppelte Größe des Lehr- und Lernmitteletats zu schrauben, geht Bremen den Weg der verordneten Dummheit. Helmut Zachau
Zachau ist Lehrer und war bildungspolitischer Sprecher der grünen Bürgerschaftsfraktion.
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