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Archiv-Artikel

Gasse der Performer

Seit vier Jahren erst gibt es in Kairo die Townhouse Gallery. Heute ist sie das bedeutendste Zentrum zeitgenössischer Kunst in der Region – weil sie Künstler und Anwohner gleichermaßen beteiligt. Ihr Begründer, der Kanadier William Wells, gibt Auskunft

Die Townhouse Gallery liegt kaum fünf Minuten Fußweg vom Midan Tala’at Harb entfernt, einem der bekanntesten Plätze im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt. Plötzlich steht man in einer schmalen Sackgasse, die außer behelfsmäßigen Autowerkstätten nichts zu bieten scheint. Die Hand eines Mechanikers zeigt auf ein Gebäude, eine Treppe führt in den ersten Stock, die Tür steht weit offen: Helle, große Räume, Comicstrips an den Wänden, daneben ein kleines Büro mit einem großen Tisch und einem Laptop. William Wells steht mitten im Raum, ein gut gekleideter Mann, die Haare leicht angegraut. Wir gehen in ein Restaurant nebenan, das offensichtlich auf westliche Kundschaft eingestellt ist, er bestellt sich ein Bier und beginnt zu erzählen:

Als ich vor vier Jahren anfing, gab es keine Kunstszene. Es gab zwei, drei private Galerien, das war alles. Andererseits hat diese Stadt um die 17 Millionen Einwohner, und die Hälfte davon ist unter 25. Was hängen die an die Wände? Bestimmt nicht dasselbe wie ihre Eltern, sondern etwas, was ihrer Vorstellung von einem modernen Lebensstil entspricht. Für diese Leute wollte ich eine Galerie eröffnen – mit jungen Künstlern.

Es kam ganz anders. Und das nur wegen des Ortes, den ich wählte, einer kleinen Gasse in der Altstadt. Die anderen Galerien liegen alle an Hauptstraßen. Kein Mensch glaubte, dass ein solcher Ort mit Kunst vereinbar wäre – viel zu dreckig. Es ist ein in sich geschlossenes Viertel, mit eigener Lebensanschauung, eigener Körpersprache – wie die Midaq-Gasse im gleichnamigen Roman des Nobelpreisträgers Nagib Machfus eigentlich. Das Haus selbst, ein altes jüdisches Bürgerhaus, war nach dem Krieg von 1956 verlassen worden. Die Bewohner der Gasse hatten es zu ihrer Gebetsstätte umfunktioniert. Dann komme ich, ein Ausländer, ich nehme es in Besitz, und alle machen große Augen. Mir war sofort klar: Diese Leute würden darüber bestimmen, ob das hier funktioniert oder nicht. Also beauftragte ich sie damit, das Gebäude zu renovieren.

Die Galerie wurde ein Riesenerfolg, vom ersten Tag an. Die ganze Gasse war da, Leute in zerrissenen Galabijas standen neben Botschaftern. Weil ich aber keine ägyptischen Künstler hatte finden können, die an einem solchen Ort ausstellen wollten, griff ich einerseits auf Ausländer zurück, andererseits auf die Menschen um mich herum. Bereits die zweite Ausstellung zeigte Arbeiten von Straßenkindern, die sich in einem Betreungszentrum in der Nähe trafen.

Gleichzeitig fingen ägyptische Künstler an, sich für das Projekt zu interessieren. Aber es gab ein großes Hindernis. Niemand traute sich, etwas auszuprobieren, alle kamen mit fertigen Werken, die Angst, durchzufallen, war zu groß. Erst nachdem ein Künstler aus dem Ausland beschloss, den zweiten Stock des Gebäudes für seine Arbeit zu nutzen, kam der Durchbruch. Plötzlich wollten alle so etwas haben. Wir fingen an zu begreifen, was den Leuten fehlte: Kommunikation. Besucher kamen, Werke wurden betrachtet, und das war’s. Also bauten wir den dritten Stock aus zu den „Open Studios“, wo sich Künstler untereinander und mit den Besuchern austauschen können.

Währenddessen entwickelte sich auch die Beziehung zur Gasse weiter. Nach den Gebeten kamen die Leute hoch, schauten sich die Bilder an, die soziale, politische, sexuelle Themen ansprachen, und begannen darüber zu diskutieren. Es herrscht ja hier eine unglaubliche Toleranz. Der Coffeeshop nebenan hatte sich zu einem beliebten Treffpunkt der Künstler entwickelt. Im Rahmen des Open-Studio-Projekts kam dann eine junge palästinensische Künstlerin zu uns. Sie war in Jerusalem aufgewachsen und hatte eine westliche Ausstrahlung. Sie lud die Straßenputzer der Gasse zu sich ins Studio, lernte die Sprache, die sie benutzen, und die Musik, die sie machen, eine rhythmische Art, mit der Bürste auf ihren Schuhputzkasten zu schlagen, um mit den Kunden zu kommunizieren. Schließlich lieh sie sich von einem der Schuhputzjungen dessen Galabija, um einen Tag lang selbst als Schuhputzerin in der Gasse zu arbeiten und ein Video darüber zu drehen. Das war die ultimative Provokation! Es stellte die gesamten überkommenen Geschlechterrollen in Frage: Mädchen putzen keine Schuhe. Die gesamte Gasse geriet in Aufruhr, nicht zuletzt die Schuhputzer selbst. Sie fingen an zu streiten, warum der Junge seine Galabija an die Frau verliehen hatte. Denn sahen sie sich selbst, sahen, wie dreckig ihre Kleidung war. Aber die Künstlerin war noch nicht fertig. Sie errichtete in ihrem Studio einen Coffeeshop mit Stühlen und Tischen, die zwei Meter hoch waren. Jeden Abend, wenn die Räume für die Öffentlichkeit zugänglich waren, kletterte sie hoch und bestellte alle zehn Minuten einen Kaffee. Jeder, der sie besuchte, musste zu ihr aufschauen, wenn er mit ihr reden wollte. Das war mindestens so provokativ wie die vorhergehende Aktion.

Mittlerweile machen die Bewohner ihre eigenen Ausstellungen. Die letzte, vor drei Monaten, war die beste. Das Konzept zu der Ausstellung der Gassenbewohner stammt von Ayman Ramadan, der zur Putztruppe der Galerie gehört. In einer großen Halle um die Ecke, die wir angemietet hatten, schufen sie sich selbst. Erst fotografierten sie sich bei der Arbeit, dann bauten sie sich aus alten Motorhauben und ähnlichen Dingen nach. Die Automechaniker schleppten drei Schrottautos in die Halle, der Coffeeshopbesitzer brachte Sachen aus seinem Laden. Die Straßenkinder, die Parfüm verkaufen, die Schuhputzer mit ihren Kistchen, die Schreiner – alle waren da. Am Eröffnungsabend dunkelten wir die Halle ab, Licht kam nur aus den Autos. Kurz bevor wir aufmachten, schlüpften die Gassenbewohner in den Aufbau, so dass ein gänzlich surrealer Eindruck entstand. Da war der Schuhputzer, zusammengeschweißt aus Metall, und daneben der echte Schuhputzer, da war der Zeitungshändler, da war der Verkäufer von Süßkartoffeln – der anfing, seine Kartoffeln zu verkaufen; es war ja genug Kundschaft da.

Die Verwirrung der Besucher hätte nicht größer sein können: War das nun eine Performance, eine theatrale Installation? Wenn man sich das Ganze ansah, war es einerseits unglaublich lustig, andererseits stellte sich sofort die Frage: Warum benutzen sie all das rostige Metall, um sich darzustellen? Ihre Antwort ist ganz einfach: „Wir arbeiten damit, wir schweißen es, wir brennen es, es lässt sich verbiegen – es ist genau wie wir selbst.“ Und so sehen sie sich auch, als Performer, für die Kunden, die ihre Autos zur Reparatur bringen, für die Galeriebesucher, die zwischen ihnen hindurchlaufen, ohne sie wirklich als Menschen wahrzunehmen. Aber wenn die Besucher weg sind, sind sie immer noch da, der Mechaniker, der vom Schweißen überall Narben hat, der Junge, der die Rollläden schließt und im Laden schläft. Das ist ihr Leben. Und plötzlich – mit dieser Kunstaktion – sehen sie es von einer anderen Warte.

Aufgezeichnet von MARTIN HAGER, Jahrgang 1966, freier Journalist in Berlin