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Garstiges Gehege

■ Mütterlicher Märchenwald – Erzählungen von Lisbet Hiide

In Lisbet Hiides Buch „Frau mit Schnabel“ fängt alles ganz harmlos an: „Wir wohnen in einem baufälligen Haus mit großem Garten. Meine Mutter und ich wohnen oben. Großmutter wohnt unten, sie ist meistens bei Jesus, daher sehen wir wenig nach ihr.“ Aber auch die Mama ist häufig unterwegs, kein Wunder, war sie doch schon immer „anders als alle anderen Mütter (...) eine Königin aus Tausendundeiner Nacht. (...) Berengaria. Ihr geheimer Name. Sie kam hierher auf einem fliegenden Teppich.“

Schnell wähnt sich der Leser im Märchenreich, aber noch der unbedarfteste merkt alsbald, daß da was nicht stimmt. Die Mutter nämlich „zieht sich Reisekleider an, packt die zwei großen Koffer und die Krokodilledertasche und setzt sich in die Küche. Sie ist fort, ich weiß nicht, wo ich nach ihr suchen soll.“ Die Tochter allein zu Haus mit ihrer anwesend abwesenden Mutter – sie findet doch immerhin zur Lektüre: „Das Märchenbuch ist das einzige, was ich habe, um mich zu trösten. Ich sitze und suche in den Märchen nach ihr.“ Ja, wo sonst sollte sie nach der Mutter suchen, wenn nicht in der wohlgeordneten Symbolik der Märchen, in der symbolischen Ordnung des phantasierenden Ich. Aber bekanntlich ist die umstandslose Verwechslung von Wirklichkeit und ihrer Repräsentation im Zeichensystem verhängnisvoll. Und schwupps, ehe man sich's versah, war die Mutter nicht mehr im Buch. „Sie war in der Blutbahn.“ Das Begehren nach der Mutter als Überdosis, vom Text intravenös verabreicht – hier beginnt der Horrortrip! Und mit ihm die folgende Geschichte, „Das Frauenareal“: Vogelartige Gestalten, halb Frau – halb Federvieh, stehen dichtgedrängt in einem von Scheinwerfern angestrahlten Gehege, mit Glasscherben auf den Mauern, bewacht von Kriegerfrauen ohne Brüste und kommandiert von einer gewissen Frau Salucifer. „Skandalös und schillernd“ steckt sie „in einer Rüstung aus Leder und Stahl, hat Federn auf der Schulter und Masken vor dem Gesicht“. Ein sadistisches Weibsstück, sie malträtiert ihre Gefangenen, die zu nichts anderem da sind als zum Gebären (will sagen: Eier legen). Wer sonst könnte das sein als die dominante Mutter, zur Domina mutiert. Aber die Tochter lehnt sich auf, getrieben von der „schwache(n) Vermutung, daß Worte helfen“. Sie helfen wenig. Statt dessen wird die Ungehörige in einem animalischen Ritual zur Gänze in einen Vogel verwandelt. Die Haut reißt auf, und unter entsetzlichen Schmerzen preßt sich das Federkleid heraus. Frau Salucifer „hat ihr Ziel erreicht, mich all meiner Menschlichkeit beraubt“.

Wir übergehen das Zwischenspiel, eine friedvolle Pastorale im Wald Killiwata nebst allerlei Lustbarkeiten. Allerdings hat die familiäre Konkurrenz um den ein oder anderen Freier unangenehme Folgen, beginnt doch die Mutter „sich aufzulösen. Sie glaubt, sie sei sechs Königinnen zugleich. (...) Sie hat sich vollständig in den Märchen verlaufen, weiß nicht, in welchem sie ist oder auf welcher Seite. Außerdem glaubt sie, sie sei ich.“ Am Ende aller Identifikationen angelangt, fragt das Leserstilzchen das schreibende Töchterlein: Wer ist nun wer? Die Tochter die Mutter? Die Mutter die Tochter? Ach wie gut, daß niemand weiß...

Aber weil nun mal alle Märchen gut enden, läßt auch in diesem die Erlösung nicht auf sich warten. Sie stellt sich ein in Gestalt eines brokatgewandeten Märchenprinzen, der sich vortrefflich darauf versteht, unserer verirrten und unterdessen mutterlosen Tochter das richtige Geschlecht sozusagen auf den Leib zu schreiben. Auf die heftige Lust der körperlichen Vereinigung folgt die schmerzhafte Lust der neuerlichen Verwandlung, die Vogel-Tochter läßt ihr Federkleid, und endlich: „Ich erhalte einen neuen Körper.“

Was wäre die Welt ohne Männer, nicht wahr? Irgendwie unerlöst! Was wäre die Welt ohne Bücher wie dieses? Zugegeben, wir sind ratlos und werden den Verdacht nicht los, in die Falle geraten zu sein, in den double bind der eigenen, gewiß allzu phantasielosen Lektüre. Gleichsam in die Gummizelle der Differenz. Wer ist die geheimnisvolle Frau mit dem Schnabel? Eine postfeministische Männeranbeterin, gar eine stramme Antifeministin? Eine maskierte Muttermörderin? Oder doch nur das flügge Töchterlein mit Angst vorm Fliegen? Wir wissen es nicht, doch möchten wir behaupten: ein durchtrieben naives, ein riskantes, ein geradezu abgefeimtes Buch. Thomas Fechner-Smarsly

Lisbet Hiide: „Frau mit Schnabel“. Erzählungen. Aus dem Norwegischen von Ursel Möhle. 95 Seiten. Suhrkamp Verlag. 12,80 DM.

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