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Gaming statt Goethe

Ein Großteil der Menschen, die heute noch Bibliotheken nutzen, sind Eltern, Studierende, Se­nio­r:in­nen. Viele Einrichtungen geben sich Mühe, um andere Gruppen anzusprechen – auch aus Eigennutz. Wer kreativ ist, hat vielleicht bessere Überlebenschancen

Spaß mit Pixeln: An der Bibliothek Hamburg-Fuhlsbüttel können Kinder in Ferien­kursen ihre eigenen Computer­spiele entwickeln Foto: dreamstime artistan/imago

Aus Hamburg Birk Grüling

Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin erleben im gleichnamigen Kinderbuch so viele Abenteuer, dass nicht alle zwischen die Buchdeckel passen. Einige davon werden lediglich in den Illustrationen angedeutet. „Als ich das Buch zum ersten Mal durchblätterte, fielen mir diese Bilder sofort ins Auge. Sie waren ein perfekter Ausgangspunkt für unsere digitalen Geschichten“, sagt Ulrike Bohnsack. Die Medienpädagogin leitet die Bücherhalle in Hamburg-Fuhlsbüttel und bietet Kurse an, die man nicht unbedingt an einer Bibliothek erwartet hätte: In den Ferien können Kinder und Jugendliche hier ihre eigenen kleinen Computerspiele entwickeln.

Textadventures heißen die geschriebenen Computerspiele. Ihre Blütezeit erlebten sie in den 1980er Jahren. In den interaktiven Geschichten müssen die Spie­le­r:in­nen Entscheidungen treffen. So können sie den Verlauf des Abenteuers mitgestalten. Programmierkenntnisse sind dafür heute nicht mehr nötig. Mit Online-Tools wie Twine lassen sich schnell Geschichten mit unterschiedlichen Ausgängen entwickeln, mit kurzen oder langen Texten, mit Bildern oder Videos – ganz nach Gefallen. In ihrem Studium hat Bohnsack mit Kindern erste Textadventures erstellt. In einem ersten Pilotkurs an der Bücherhalle sind nun viele weitere entstanden.

Als Beispiel zeigt Bohnsack das Adventure einer jungen Teilnehmerin. Durch ein Dutzend Verästelungen müssen die Spielenden den Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin führen. „Die kreative Leistung ist enorm. Man muss sich mehrere Erzählstränge überlegen und einzelne Szenen schreiben“, erklärt Bohnsack. Drei Stunden dauerte die Ausarbeitung. Um alle Wege durchzuspielen, benötigen die Spielenden fast eine Stunde. Natürlich geht es auch einfacher: So endet die Geschichte eines jüngeren Teilnehmers bereits nach drei Abzweigungen. Sichtlich angetan vom Ergebnis plant Bohnsack derzeit neue Textadventure-Kurse für Schulklassen und als offenes Ferienangebot.

Scrollt man durch die digitale Terminübersicht der Hamburger Bücherhallen, findet man noch weitere ungewöhnliche Angebote. Neben Klassikern wie Bilderbuch-Kino, Brettspielnachmittagen oder „Gedichte für Wichte“ werden Roboter programmiert, wird auf Spielkonsolen gezockt oder es werden Yoga-Kurse angeboten. Seniorinnen und Senioren erhalten Hilfe bei der Nutzung von Tablets und Smartphones, Schulabgänger und Wiedereinsteiger werden bei Bewerbungen und der Berufswahl unterstützt. Junge Leserinnen und Leser diskutieren über Young-Romance-Titel und drehen gemeinsam Video-Buchvorstellungen für die BookTok-Community. Es wird offensichtlich große Mühe darauf verwendet, ein breites und heterogenes Publikum anzusprechen.

Auch die klassischen Leihmedien haben sich verändert. Zwar machen physische Kinderbücher und Romane immer noch einen großen Teil der bundesweit 312 Millionen Entleihungen pro Jahr aus, doch gleichzeitig wächst der Anteil digitaler Angebote: Hörbücher, E-Books, Streaming von Filmen und Musik sowie Onlinekurse machen inzwischen mehr als 20 Prozent der Ausleihen aus. Im Trend liegen auch sogenannte Bibliotheken der Dinge, in denen Gebrauchsgegenstände wie Haushaltsgeräte, Werkzeuge oder Unterhaltungselektronik ausgeliehen werden können. Manche Bibliotheken verleihen sogar Musikinstrumente oder zeitgenössische Kunstwerke.

„Viele Bibliotheken haben mittlerweile weit mehr zu bieten als nur die Ausleihe von Büchern oder Spielen. Sie sind zu einem wichtigen Ort für kulturellen Austausch, Begegnungen und lebenslanges Lernen geworden“, erklärt Julia Abel, Professorin für Bibliotheks­pädagogik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

Neben vielfältigen Kursangeboten testen einige Bibliotheken auch erweiterte Öffnungszeiten – etwa an Sonntagen oder spätabends, teilweise sogar ohne Personal. Die Bücher können dann über Selbstbedienungsterminals ausgeliehen werden. Einzige Voraussetzung ist ein Büchereiausweis. In Hamburg haben die Bücherhallen mit diesem Ansatz gute Erfahrungen gemacht. Das Angebot werde von vielen Menschen genutzt, um in Ruhe zu lernen, zu lesen, sich mit Freunden zu treffen oder einfach nicht allein zu sein. Fälle von Vandalismus seien selten, zur Sicherheit gibt es eine datenschutzkonforme Videoüberwachung.

„Bibliotheken tun gut daran, sich zu öffnen und nicht nur Schulklassen, Kindergärten oder Seniorinnen im Blick zu haben“, sagt Abel und verweist auf sinkende Bibliothekszahlen in Deutschland. 2023 gab es bundesweit rund 8.860 öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken – zehn Jahre zuvor waren es noch etwa 10.200. Besonders im ländlichen Raum kommt es zu Schließungen, oft aus finanziellen Gründen oder wegen rückläufiger Nutzer:innenzahlen.

Die meisten der acht Millionen Menschen, die regelmäßig eine Bibliothek besuchen, sind Familien mit Kindern, Studierende und Seniorinnen und Senioren. Eine Nutzungslücke klafft zwischen 20 und 50 Jahren. In vielen strukturschwachen Regionen gibt es jedoch kaum Familien und junge Menschen. Es braucht also dringend neue Bibliotheksbesucher: innen.

Wie das gelingt, zeigt die Bücherhalle im Osdorfer Born, einem Stadtteil Hamburgs mit hoher Arbeitslosigkeit und begrenztem Wohnraum. Die klassische Bücherei-Klientel würde man hier vielleicht nicht erwarten, dennoch ist die Bücherhalle in einem Einkaufszentrum gut besucht. Morgens kommen Kita-Gruppen zum Bilderbuch-Kino, am Nachmittag gibt es ehrenamtliche Leseförderung für Kinder und Sprachkurse für Migrantinnen und Migranten. Ein Verein bietet hier Berufsberatung für Frauen mit Migrationshintergrund an.

„Wir sind immer wieder überrascht, wie vielfältig unser Angebot genutzt wird. Zum Beispiel haben wir einen sehr guten Ruf als Lernort für angehende Bus- und Taxifahrer, die sich auf ihre Abschlussprüfungen vorbereiten“, berichtet Leiter Jens Ambacher. Auch das kostenlose WLAN werde gerne genutzt. Dass nicht jeder, der seinen Nachmittag in der Bücherhalle verbringt, auch zum Buch greift oder einen Ausweis besitzt, stört Ambacher kaum. Die Bücherhalle sei in erster Linie ein öffentlicher Bildungsraum, die Leihmedien nur eines von vielen Angeboten. „Die Ausleihe von Büchern oder Spielen wird vor allem von Kindern und Senioren genutzt. Unsere engste Zusammenarbeit besteht mit Schulen und Kitas. Darin unterscheiden wir uns kaum von anderen Standorten“, sagt er.

2023 gab es bundesweit rund 8.860 öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken – zehn Jahre zuvor waren es noch rund 10.200

Die Bedeutung der Bibliotheken als Orte für kulturellen Austausch und Bildung könnte in Zukunft noch weiter steigen, meint Bibliotheksforscherin Abel. „Wir brauchen dringend Orte für Debatten, Bildung und Experimente – etwa zu Chancen und Risiken neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz“, sagt sie. Als Beispiel dafür nennt sie den Umgang mit Fake News – ein drängendes Problem, das Menschen aller Altersstufen betrifft und potenziell demokratiegefährdend ist.

Bibliotheken könnten hier eine entscheidende Rolle spielen: Einerseits bieten sie verlässliche Informationen, andererseits sind sie öffentlich zugänglich und bringen Menschen zusammen. Bei den Hamburger Bücherhallen hat man sich dieses Thema ebenfalls auf die Fahnen geschrieben – auch nach dem man 2022 selbst Opfer von Falschmeldungen wurde. Auf Telegram verbreitete sich ein Foto eines angeblichen Schildes der Hamburger Bücherhallen. Darauf steht, die Bibliothek nehme unnötige Bücher an, um damit künftig zu heizen.

Nun berichten bei Abendveranstaltungen Jour­na­lis­t:in­nen darüber, wie sie Falschmeldungen enttarnen, und es gibt Planspiele für Schulklassen. Die Schülerinnen und Schüler überprüfen als Fakehunter die Meldungen eines fiktiven Nachrichtenportals. Eine mögliche Quelle dabei: unverheizte Bücher.

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