GLOSSE: Es ist nie zu spät für Identität
■ Beulen an Thüringer Gelehrtenköpfen im Streit um DDR-Identität
Das Weihnachtsfest kommt immer näher. Mit ihm die bange Frage in den neuen Bundesländern, was legen wir Heinzchen-Georg oder Elisabeth-Karla diesmal auf den Gabentisch. Die Kinder haben sich seit der Vereinigung aber auch zu schnell entwickelt. Etwas DDR-Herkömmliches, ein Buch, wollene Söckchen oder einen Weihnachtsmann aus Moskau, der, wenn man seinen Sack schüttelt, die Internationale klimpert, neuerdings allerdings wieder die Zarenhymne, erinnert die Kleinen viel zu sehr an die furchtbaren vierzig Jahre, die hinter ihnen liegen. Zu einer schlichten westdeutschen Weihnachtsgabe aber, einem Computer oder Videorecorder mit Unendlichporno, finden die Unreifen noch nicht den rechten Zugang. Was also, um Himmels willen, soll man bloß schenken?
Meine Empfehlung — Identität.
Darauf gekommen bin ich durch ein top sekretes Kolloquium, auf welchem sich in Thüringen kürzlich große Köpfe diesen Körperteil schier eingeschlagen haben. Eben wegen jenem magischen Wort.
Die einen klugen Häupter sahen sie noch, die DDR-Identität, die anderen schon nicht mehr. Die dritten verspürten selbst im tiefsten Thüringer Wald bereits einen Hauch von Europa-, mindestens aber, Gott behüte, Deutschlandbewußtsein.
Ich aber habe mich verhaßt gemacht und nachgefragt, ob sie denn jemals und überhaupt stattgefunden hat, diese DDR-Identität. Und wenn, wann, wie und wo.
Sicher, in der Kindheit und Jugend beider deutscher Staaten gab es die unaufhörlichen Versuche, verschüttete deutsche Identität durch die der Sieger zu ersetzen. DDR-seitig ist das kaum gelungen. Außer ein paar Wodkafreunden, einer Handvoll unverbesserlicher Stalinisten und Sympathie mit den russischen Menschen ist nicht viel geblieben von allen Versuchen der Russifizierung. Die drübige Identität ist bisher ebenfalls nicht eingetroffen. Sie hält sich noch immer verborgen. Irgendwo zwischen Pitbull und den Wildecker Herzbuben.
In der DDR aber gab es Zeiten, da war sie ganz, ganz nahe. In jenen so fernen frühen fünfziger Jahren tauchte sie plötzlich auf. Als „große sächsische Hoffnung“. Saxonia sei's Panier. Der nach August dem Starken zweitmächtigste deutsche Sachse, Walter im Bart, versuchte, sein Nuschelidiom zur Ostidentität zu kreieren.
Die Regierungs- und Parteiführer, doch nicht nur sie, auch die gemeine Frau nebst ihrem Mann ergingen sich staatsmännisch oder bürgerlich, jedenfalls so ernsthaft wie genüßlich in der schnalzenden Zunge. Vom Säugling auf dem Topf bis zu Stalin auf der Bühne, alles sächselte. Die Sprachkünste der Papageien im Zirkus Busch und die goldenen Kehlen der Schlagersänger, alles vibrierte in jenen sächsisch gutturalen Urlauten: „Ene neie Liebe is wie e neies Läm.“
Mit dem Ende des spitzbärtigen Leipziger Regierungslottls kam auch das Ende des sächsisch-imperialen Herrschaftsgedankens. Verschwunden über Nacht die Zahnarztsprache, jedenfalls aus den Regierungspalästen.
Sogleich aber wurde die Nischenidentität erfunden. Und wer brachte Selbiges fertig? Kein Geringerer als unser nationaler Vor- und Nachdenker Günther Gaus. Noch heute tiefste Verneigung vor sich selbst ob der genialen Kühnheit jener Entdeckung.
Der Kohlmeise gleich, die sich behende, aber auch putzig in der Nähe des Fettnäpfchens vor dem Fenster in einer Dacheszinne eingerichtet hat, verbringt nach Günther Gaus der DDR-Nischen-Mensch seine Tage. Ein Exot, der das gemütliche Kabäuschen nur verläßt, um fetteste Thüringer Leberwurst zu kaufen, Westbesuch zu empfangen oder aus Anlaß der Oktoberrevolution zu demonstrieren.
Doch auch die Gaussche Nische ging den Bach hinunter. Mit ihr der letzte Versuch einer DDR-Identität. Zeit ist's, Landsfrauen und -männer, nach etwas Eigenem zu suchen. Die bundesdeutsche Identität, falls es sie doch gibt? Oh, nein, dazu ist unsereiner viel zu geschämig. Die müssen wir uns erst einmal verdienen. Wie seinerzeit die großen Orden. Den „Vaterländischen in Gold“ und das „Banner der Arbeit“.
Eine europäische also?
Auch nicht. Den kümmerlichen Voraussetzungen gemäß könnte uns doch ohnehin nur eine osteuropäische zugestanden werden. Die aber haben wir gerade erst hinter uns gebracht. Was also bleibt? Nur die regionale, die Thüringer Identität.
Wo aber beginnt dieselbe? Beim Thüringer Zwiebelkuchen oder der Kultur? Und wenn, dann nur bei Goethe? Der aber war Hesse. Nein, bitte Schiller jetzt nicht als nächsten bemühen. Dessen Wiege stand bekanntermaßen ebenfalls außerhalb der Landesgrenzen. Man muß, wenn Thüringer Kultur gemeint ist, einfach Weimar sagen und sich dann an alles andere heranarbeiten. An die Klassik, an Liszt und Richard Wagner, an die Marlitt und das Bauhaus, an die Wartburg und Martin Luther, den vielweibrigen Grafen von Gleichen.
Und an Buchenwald? Es gehört doch unbestritten ebenfalls zum Dunstkreis der heiligsten deutschen Stadt. Oder soll man einfach so tun, als befände sich jenes Lager woanders? Gescheiter wär's schon. Aber halt gelogen. Die Furcht, Touristen zu verlieren wegen diesem Ort? Unbegründet. Schön gruslig ist er allemal, und vielleicht wär' ja auch mit Disneyland ein Vertrag...?
Eines jedenfalls steht fest. Zu Weimar in Thüringen wird Buchenwald gehören. Für alle Zeiten. Wir und unsere Kindeskinder müssen das schon ertragen. Wer die strahlende Klassikerstadt erben will, hat den schrecklichen Bastard zu ihren Häupten ebenfalls zu übernehmen. Um der Wahrheit und der Zukunft willen.
Auch wegen der eigenen Identität und um sich ehrlichen Herzens bekennen zu können. Zu all den hinreißenden Landstrichen, dem Thüringer Wald, dem Meininger Land, der Wartburg, dem Schwarzatal, der Rhön. All das ist Thüringer Identität. Die polternden, schnalzenden, säuselnden, geschmeidigen zahllosen Dialekte, die Traditionen, Tänze, Lieder. Und das Thüringer Essen. Dessen Zugehörigkeit war, jedenfalls bei jenem Disput, unumstritten. Geschlungen in den Pausen haben alle, schlimmer als die Boas, und sehr gelobt die köstliche Atzung. Aber trotz solch kalorienreicher wie unverwechselbarer Argumente, dennoch keine Entscheidung.
Ich aber habe mich entschieden.
Ach, Thüringer Rostbratwurst, oh, Kartoffelkloß und du wunderbare, weil ständig neu zu prüfende Frage: Welche majorane Kreation ist die einzig richtige? Welcher Kloß der einzig rechtmäßige?
Jene genialen Leberwurstsymphonien der Meininger Metzger? Oder das Mysterium des mit göttlicher Füllung versehenen Schweinedarms der goldenen Aue? Oder sind es die Sinnesfreuden der bacchanalischen wie erbarmungslosen Knoblauchrippchenorgien in der Thüringer Rhön? In deren Gefolge herrlichster, nie enden wollender Bierdurst. Für mich auch nicht der kleinste Zweifel mehr. Es gibt sie, die Thüringer Identität. Und nicht nur in der Schweinewurst. Auch in der Begeisterung über das schöne Ländle und seine ehemaligen Fertigkeiten, dem „Heisa-Weihnachts-Glitzer-Christbaumschmuck“ aus Lauscha, den „Zwinker-Klimper-Äh-Mamma“- Sonneberger Puppen, der „Klirr- Schepper-Keramik“ aus Bürgel und den „Ritsch-Ratsch-Klöppel-Spitzen“ aus Gera, den „An-der-Saale- hellem-Strande“-Thüringer Burgen und den „Jololo-Hüdi“-Thüringer Liedern, Büchern und Bildern der Heimatkünstler.
Doch hier nun heftigste Proteste aus jenen berufenen Mündern. Wegen eines heraufziehenden Thüringer Nationalismus.
„Eine leichte Prise Nationales, bitt' schön“, hab' ich dagegengehalten, „muß einfach erlaubt sein.“ Eingebettet zwischen Goethes Gartenhaus, einem deftigen Kartoffelpuffer, der multikulturell gewürzt ist, und einem Thüringer Neger, gebürtig in Apolda, kann doch überhaupt nichts passieren. Die weisen Häupter vertagten sich. Identitätslos.
Ich aber atme leichter, über die so spontane wie schöne Gewißheit. Viele stolze Nationen mit einzigartigen Identitäten bevölkern die Welt. Eine neue steigt strahlend am Horizont der Geschichte auf. Das edle Thüringen. Es hat sich auf den Weg gemacht. Henning Pawel
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