GLOS’ IDEE DER STEUERSENKUNGEN BRINGT NUR GUTVERDIENERN ETWAS : Die Ungerechtigkeit boomt
Deutschland ist mit einem neuartigen Phänomen konfrontiert. Die Wirtschaft brummt, aber die Arbeitnehmer profitieren nicht mehr davon. In Umfragen geben inzwischen rund 70 Prozent der Bürger an, dass sie sich von diesem Konjunkturaufschwung nichts erhoffen. Das beweist Realitätssinn. Auch letztes Jahr boomte die Wirtschaft schon, trotzdem fielen die Lohnerhöhungen so mickrig aus, dass sie noch nicht einmal die Inflation ausglichen. Die Realeinkommen sinken – obwohl die Firmengewinne sprudeln. Dieser Widerspruch markiert eine historische Zäsur. Er bedeutet das Ende des Wohlfahrtsversprechens, auf dem die Bundesrepublik gegründet wurde.
Missmut macht sich unter den Bürgern breit, was der Politik nicht entgangen ist. CSU-Wirtschaftsminister Glos nutzte daher die Nachrichtenflaute um Ostern, um sich den Sorgen der Wähler anzunehmen. Man könnte doch die Einkommensteuer noch weiter senken, damit auch der normale Arbeitnehmer endlich vom Aufschwung profitiere. Ein idiotischer Einfall. Oder höflicher formuliert: Diese Idee ist kontraproduktiv. Schon die letzte, rot-grüne Reform der Einkommensteuer hat vor allem den Gutverdienern genutzt, wie das Bundesfinanzministerium jüngst einräumen musste. Dieser Effekt wäre erneut zu befürchten. Angeblich will Glos mehr Gerechtigkeit, tatsächlich würde er die Ungerechtigkeit mit seinen Steuergeschenken sogar noch verstärken.
Immerhin hat Glos Instinkt bewiesen. Es wird die nächsten Wahlkämpfe beherrschen, dass fast nur noch Firmeneigner vom Aufschwung profitieren. Deswegen reagiert die SPD ja so pikiert auf den Vorstoß aus Bayern. Dabei vermeiden es jedoch beide Lager, sich mit der Frage zu befassen, warum die Reallöhne selbst im Boom fallen. Beide Volksparteien wollen sich das Offensichtliche nicht eingestehen: die Gewerkschaften sind inzwischen so machtlos, dass der Staat für Gerechtigkeit am Arbeitsmarkt sorgen muss. Dabei wäre der Mindestlohn nur der Anfang und auch die Vermögensteuer nicht das Ende. Wie unbequem. Noch hängen beide Volksparteien dem Traum nach, dass die Regierung nur Moderator ist. Doch daran scheiterte schon Kanzler Schröder. ULRIKE HERRMANN