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GESTERN – HEUTE – MORGENWie die Sterne für den Weg der Störche

Die Zwölfergemeinschaft der EG übt auf die Auswanderungswilligen im Maghreb große Anziehungskraft aus, ist Orientierungspunkt für ein neues Leben. Solange die Einreisegesetze der Gemeinschaft noch nicht angeglichen sind, bleiben Schlupflöcher, um auch in die stärker abgeschotteten „Traumländer“ zu gelangen. Aber der Traum könnte bald vorüber sein, denn das geöffnete Ost- und Südosteuropa tritt in Konkurrenz zu den nordafrikanischen Mittelmeerländern.  ■ VON RAFIC BOUSTANI UND PHILIPPE FARGUES

Wird Rom wiedergeboren? Zum ersten Mal seit 16 Jahrhunderten umfaßt die Karte der ökonomischen Bereiche rund um das Mittelmeer wieder den Raum der Cäsaren. Aber da die Geschichte sich niemals wiederholt, ist der erinnerungsträchtige Name der Ewigen Stadt durch ein barbarisches Signum, EG, ersetzt worden und hat sich das einstige Gravitationszentrum mehr nach Norden verlagert, dorthin, wo erneut der Osten und der Süden des Mare Nostrum konvergieren. Eben dort verlaufen auch die Routen der modernen Migration. Für die Staaten genügt es sogar, sich an die Familie der Zwölf anzuschließen, um zum Zufluchtsort zu werden: Gestern hat Italien und heute haben Spanien, Griechenland und Portugal kaum ihre uralte Emigrationstradition aufgegeben, und schon geraten sie in die Rolle eines neuen Eldorados. Mit der Berliner Mauer, die im Herbst 1989 fiel, ist auch der Eiserne Vorhang verschwunden, der Europa vom Baltikum bis zur Meerenge von Otranto teilte. Wird der Osten dem Süden, dem ungeliebten Nordafrika den Rang ablaufen? Die westlichen Investoren haben bereits ihre Wahl getroffen: Sie haben Budapest, Prag und Berlin gegen Algier eingetauscht, gegen Kairo und Casablanca. Die sich im Osten verfestigenden Demokratien flößen ihnen mehr Vertrauen ein als das mediterrane Afrika, wo die Auseinandersetzungen des arabischen Orients ihren Widerhall finden. Aber werden sich die Menschenströme weiterhin an die arabischen Gestade des Mittelmeers ergießen, oder werden sie bald dem Ufer der Donau oder der Wolga entgegenstreben?

Auf diesem Gebiet gibt es keine spontane Entwicklung. So wie die Sterne den Weg der Störche festlegen, diktieren Geographie und Geschichte den großen Migrationsströmen ihr Gesetz. Wie könnte man sonst die Abwanderung aus Nordafrika erklären? Die der Algerier, die so lange und so grundlegend an Frankreich orientiert waren, daß sie kein anderes fremdes Land als das französische Sechseck zu wählen vermochten (98 Prozent der algerischen Emigration!), während die Marokkaner, die die französische Kolonialzeit – sie dauerte nicht so lange an und verlief nicht so ausschließlich – besser verarbeitet haben, zum Teil den alten Weg nach Andalusien wiedergefunden haben oder sich in Richtung Nordfrankreich bewegen, bis nach Flandern und in die Niederlande. Die Tunesier ihrerseits haben die Erinnerung an die zwei Jahrhunderte des Kalifats der Fatimiden bewahrt, als sie in Italien hängenblieben, statt nach Frankreich weiterzuziehen. Die Wanderungsbewegungen aus dem Osten- die gegenwärtigen wie die zukünftigen – sind das letzte Resultat des Zusammenbruchs der Reiche des Ersten Weltkrieges. Die Türken und die Emigranten aus den Balkanländern gehen nach Deutschland, das mit dem ottomanischen und dem österreichisch-ungarischen Reich verbündet war. Und gerade hier ergibt sich für die Nordafrikaner eine Konkurrenzsituation. Die Veränderungen, die sich in Jugoslawien anbahnen, könnten diese Situation um so mehr verschärfen, als daß das wiedervereinigte Deutschland auf einen Schlag über genügend Arbeitskräfte verfügt. Die 60.000 Marokkaner, die als Vorausabteilung nach Hamburg oder München aufgebrochen sind, werden daher wohl ohne Nachfolger bleiben.

Auch verschärfte Kontrollen verhindern nicht, daß immer mehr Menschen heimlich einwandern

Das letzte Imperium, das schwankt, die Sowjetunion, hat bis jetzt nur eine jüdische Emigration in Richtung Israel ausgelöst. Die romanischen Länder haben nicht die gleichen historischen oder geographischen Gründe, nach der plötzlichen Öffnung Osteuropas zum Auffangbecken zu werden – sieht man einmal von der Landung mehrerer tausend Albaner in Brindisi ab. Die Wanderungsbewegungen zwischen den beiden Ufern des Mittelmeers sind dennoch nicht unabhängig vom europäischen Rechtssystem. Am 1.Januar 1993 werden die Grenzen zwischen den zwölf EG-Staaten verschwinden. Im gegenwärtigen Stadium der Verhandlungen scheint es nicht leicht zu sein, jene Regeln in Einklang zu bringen, welche die Einwanderung von Nicht-EG-Bürgern festlegen. Jedes Land hat seine eigenen Gesetze, über die es eifersüchtig wacht, da sie das Ergebnis von bilateralen Verhandlungen mit den Auswanderungsländern sind. So kommt es wahrscheinlich zu Weichzonen, über die Personen einreisen können, die sich später in anderen europäischen Regionen mit strengeren Einreiseregelungen niederlassen. Daher werden dann Gegenmaßnahmen getroffen, die Länder wie Deutschland, Frankreich und Belgien bereits bei Ausländern anwenden, die sich in der Illegalität befinden, weil sie heimlich eingereist sind. Mitte der siebziger Jahre wurde in diesen Ländern das Einwanderungsrecht mehr oder weniger streng auf die Familienzusammenführung eingeschränkt. Als Resultat nahm die heimliche Einwanderung zu. In den achtziger Jahren wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die illegale Einreise einzudämmen: Visumzwang für Staatsangehörige, die bis dahin kein Visum brauchten, verschärfte Grenzkontrollen und die Bestrafung von Schleppern. Aber all das hat nichts genützt. Die Gegenmaßnahmen wurden weiterentwickelt, aber die illegale Einwanderung hörte keineswegs auf. Neben den sozialen Spannungen, die sie stellenweise hervorruft, spielt sie weiterhin eine wichtige Rolle in der Wirtschaft der Gemeinschaft, indem sie für bestimmte Problembereiche, wie zum Beispiel das Baugewerbe oder die Textilindustrie, einen Jungbrunnen bildet. Ende der siebziger Jahre, als die Wirtschaftsrezession zu einer verschärften sozialen Krise und zum Ansteigen der Arbeitslosigkeit führte, wofür man Schuldige finden mußte, vergiftete die transmediterrane Migration die innenpolitischen Debatten Südeuropas. In Italien und Spanien wurde man sich plötzlich der neuen Rolle als Aufnahmeland bewußt. In Frankreich, wo die Einwanderung während der „dreißig glorreichen Jahre“ (1945 bis 1975) nicht für besonders viel Aufregung gesorgt hatte, beginnen die Toleranzschwelle, die zahlreichen Ethnien oder die Aussöhnung mit dem Islam und die Verweltlichung kirchlicher Institutionen die Medien zu beschäftigen; das Parlament wurde zu Debatten gezwungen, deren Heftigkeit die Terminplanung der Wahlen beeinflußte. Die Sprache machte Anleihen bei der Hydraulik, das heißt einem Bereich mit unveränderlichen Gesetzen. Die „Migrationsströmung“ entsprach dem demographischen „Druck“ im Maghreb. Wenn dieser sich verstärkte, wurde die Strömung zu einer „Woge“, die über das „überflutete Europa“ hereinzubrechen drohte.

Die Migration ist in der Tat Folge des Ungleichgewichts. Im Mittelmeerraum kommt sie durch einen Gegensatz zustande, der auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen hat, durch einen Gegensatz zwischen einem reichen, aber demographisch stagnierenden Norden und einem Süden, wo das Anwachsen der Bevölkerung einen starken Einfluß auf Wirtschaftssysteme mit ungewissen Zukunftsperspektiven ausübt. Die Migration ist daher nicht nur eine Reaktion auf die schlechten Erfahrungen im Ausreiseland, sondern auch auf die Anziehungskraft der Aufnahmeländer. Letztere sind für die legale Einreise von Arbeitern, die sich für immer in ihnen niederlassen wollen, praktisch geschlossen. Sie öffnen ihre Grenzen nur noch für die Familien von Ausländern, die bereits in ihnen leben, und natürlich für illegale Einwanderer, über die nur schwer statistische Angaben zu machen sind. Im Maghreb gab es noch nie so viele 20- bis 30jährige, und in Frankreich hat der Einreisestrom – von Arbeitern und ihren Familien – im Laufe der letzten zehn Jahre immer stärker zugenommen. Völlig überrascht von dem plötzlichen Rollenwechsel, haben Spanien und Italien noch keine brauchbaren Statistiken über die Marokkaner und Tunesier, die sie beherbergen, geliefert.

In Zukunft mögen sich die Bedingungen, die die Emigration aus Nordafrika begünstigen, vielleicht ändern, aber noch nicht in den nächsten zehn Jahren. Selbst wenn die einander ergänzenden Faktoren – die marokkanische und die tunesische Landwirtschaft, das algerische Erdöl und Erdgas – innerhalb der Union des Arabischen Maghreb (der UMA-Vertrag wurde 1989 in Marrakesch unterzeichnet) die Wirtschaft des Maghreb ankurbeln würden, kann man davon allerdings kurzfristig nicht allzu viel für den Arbeitsmarkt erwarten, auf den die Unbeschäftigten drängen: 16,4 Prozent sind in Tunesien arbeitslos, 16,6 Prozent in Marokko und 22,5 Prozent in Algerien. Diejenigen, die in den nächsten zwei Dekaden fordern werden, sind tatsächlich schon auf der Welt. Ihre Zahl wird bis in die Jahre 2000 und 2005 noch zunehmen.

Allerdings ist die Zahl der jährlichen Geburten in Tunesien seit 1980 und in Algerien seit 1985 stetig zurückgegangen. Auf lange Sicht ist somit Optimismus erlaubt. Allzusehr daran gewöhnt, den Maghreb als Opfer der Geburtenexplosion zu sehen, haben wir der dortigen Entwicklung der Geburtenziffern nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. 1970 brachten die Algerierinnen im Durchschnitt mehr als acht Kinder zur Welt, die Marokkanerinnen und die Tunesierinnen sieben. Heute sind diese Zahlen auf fünf, vier und drei bis vier zurückgegangen. Statistisch sind es 2,8 in den Städten Marokkos, 2,5 in Tunis: Man nähert sich den europäischen Maßstäben schneller, als es den Anschein hatte.

Am 27.Juni werden die islamischen Fundamentalisten ins algerische Parlament einziehen. Vielleicht werden sie dort stärker als in Ägypten, Tunesien oder Jordanien sein. Vielleicht werden sie Veränderungen erzwingen, die zu Lasten ihrer Widersacher gehen. Vielleicht wird der gesamte Maghreb demnächst erleben, wie seine erst kürzlich erfolgte demokratische Öffnung durch einen intoleranten Radikalismus abgelöst wird. Wird das zu einem Wiederaufblühen der Migration führen? Fundamentalismus und Emigration nähren sich nahezu von den gleichen Zutaten: einem schnellen Anstieg des Bildungsniveaus, wodurch neue soziale und berufliche Bedürfnisse entstehen; einer weiterhin zunehmenden Arbeitslosigkeit, welche die Hoffnungen der jungen Leute grausam enttäuscht; einer dichten Urbanisierung, die sowohl für das Funktionieren der Migrationsnetze wie für die Organisierung von politischen Bewegungen notwendige Kontakte begünstigt. Aber der Fundamentalismus, der eine Erneuerung der Traditionen anstrebt, und die Emigration, diese Entwurzelung par excellence, haben nicht die gleichen Ziele. Wenn ersterer die zweite wiederaufleben läßt, so rekrutieren sich aus den Demonstranten, die in Algier gegen eine gewaltsame Arabisierung protestiert haben, die neuen Emigranten. Sie repräsentieren eine gebildete, zweisprachige Jugend. Sie ähneln nicht den Generationen, die vor ihnen nach Europa gegangen sind. Jedenfalls würden sie eine Migration größeren Ausmaßes nur dann mittragen, wenn Europa sie ruft, wenn die europäische Wirtschaft sie braucht – es sei denn, die Lage im Maghreb wird unerträglich für sie. Aber besteht diese Gefahr wirklich? Um ihre ersten Erfolge zu sichern, benötigen die Islamisten eine vierte Zutat: Petrodollars. Sie sind der Lebensnerv eines Proselytentums, das ein Terrain besetzt hält, welches von den Staatsbürokratien offengelassen wurde, nämlich gesellschaftliches Handeln. Dieses Manna könnte in Zukunft allerdings fehlen, wenn Saudi-Arabien, Mäzen der Re-Islamisierung, diejenigen bestraft, die – um ihren Grundsätzen treu zu bleiben – dazu aufgerufen haben, an der Seite von Saddam Hussein die Waffen zu ergreifen.

Philippe Fargues und Rafic Boustani sind Autoren des „Atlas du Monde Arabe“. Fargues ist Direktor am Pariser „Institut National d Etudes Demographiques“.

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