GASTKOMMENTAR: Zuckerbrot und Peitsche
■ Wut und Apathie beherrschen die polnische Gesellschaft
Als im Juli dieses Jahres Michail Gorbatschow in Polen war, überschlugen sich die polnischen Massenmedien geradezu mit Lobeshymnen. Bei seinem Besuch bei Stettiner Werftarbeitern zeigte das Fernsehen lächelnde Arbeiter und einen lächelnden Gorbatschow – ob er jetzt immer noch lächelt? Der Stettiner Hafen ist inzwischen zu einem der Heuptstreikzentren in Polen geworden, und die schöne Fiktion vom Juli ist geplatzt wie eine Seifenblase. Seit Jahren kristallisieren sich in Polen die Probleme der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks. Die Streikwelle vom Mai hat sich nicht einfach in nichts aufgelöst, sie schwelte unter der Oberfläche weiter: die Wirtschaft geht vor die Hunde, die Reform ist in grotesken Verrenkungen steckengeblieben, die Jugend flieht aus dem Land wie von einem sinkenden Schiff. Die Gesellschaft wurde von zwei Gefühlen zugleich beherrscht: Wut und Apathie. Die Apathie scheint nun zu Ende zu sein.
Was auffällt an der derzeitigen Streikwelle, ist ihre Spontaneität. Der Ausbruch war weder voraussehbar noch lenkbar, und taktisch gesehen kam er zu einem fatalen Zeitpunkt. Die Studenten, die die Arbeiter im Mai so vehement unterstützt haben, sind jetzt in den Ferien. Beide, Studenten und Arbeiter, sind jung und kennen Solidarnosc und Kriegszustand nur vom Hörensagen. Solidarnosc heißt für sie vor allem Pluralismus und Bürgerrechte, und deshalb fordern sie die Wiederzulassung der Gewerkschaft. Für die Regierung ist das unannehmbar, sie bezieht schließlich aus der Niederwerfung von Solidarnosc ihre Legitimation. Wie kann Jaruzelski raus aus diesem Teufelskreis?
Am liebsten würde er die Streiks in einer Geldlawine ersticken – aber gerade an Geld fehlt es. Also nimmt er Zuflucht zu seiner alten Taktik: Zuckerbrot und Peitsche. Gewalt, wo kein Widerstand erwartet wird, Verhandlungen, wo Gewalt zuviel kosten würde. Die Regierung samt Premier Messner soll geopfert werden. Gesucht wird nur noch nach dem richtigen Zeitpunkt. Aber da die Polen solche Dinge wie Regierung, Premier oder Wahlen ohnehin für reine Fiktionen halten, wird das keine größere Wirkung haben, als wenn sich Jaruzelski die Fingernägel schnitte. Im Grunde stehen Jaruzelski und Gorbatschow vor dem gleichen Problem: Wie bringt man eine Gesellschaft auf die Beine, die politisch lethargisch, dafür bei wirtschaftlichen Konflikten quicklebendig ist? Das kommunistische System in Osteuropa dreht sich in diesem Teufelskreis. Jaruzelskis einziges Rezept im Moment scheint zu sein, vorsichtig nachzugeben. Aber bis wohin?
Tomasz Jastrun, Warschau, Lyriker und Essayist und Mitarbeiter der Zeitschrift 'Res Publika'
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