GASTKOMMENTAR: Was jetzt not tut, ist noch mehr Enthüllung!
■ Nicht die „Exzesse“ des Nachrichtenmagazins 'Der Spiegel‘ sind traurigstes Kapitel der letzten Wochen, sondern das Versagen fast der gesamten deutschen Presse, aggressiv die Ressourcen der Stasi-Akten zu nutzen, um ein präzises Bild zu zeichnen
Um wessen Vergangenheitsbewältigung handelt es sich eigentlich? Gerade jetzt, wo die Ostdeutschen den eigentlichen, den schweren Part beginnen, nämlich den Kopf tief in die Vergangenheit zu stecken, da kommen auch schon die Rüpel aus Bonn und wollen das ganze Ding abblasen. Nirgendwo sonst findet man einen solch treuen, hingebungs- und gedankenvollen öffentlichen Angestellten, wie Joachim Gauck einer ist.
Wenn jemals eine Regierungspolitik dazu diente, die Menschen tatsächlich darin zu bestärken, den zwar schmerzvollen, aber notwendigen Weg der Auseinandersetzung mit ihren eigenen Missetaten zu gehen, dann ist es Gaucks Herangehensweise an die Stasi-Akten. Indem die dunklen Geheimnisse vierer Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft dem frischen Wind der Öffentlichkeit ausgesetzt werden, indem Menschen die Möglichkeit gegeben wird, selbst herauszufinden, wer was über wen sagte, bietet die Öffnung der Stasi-Archive eine seltene historische Chance: eine Chance für Freunde, Familien und Kollegen, den Schlüssel zur Überbrückung von Alt und Neu zu finden.
Dieser Prozeß war schon bei den bekannten Fällen von Vera und Knud Wollenberger, Heinz Eggert und Sascha Anderson am Wirken. Als Lothar de Maizière, Gregor Gysi und Manfred Stolpe auf die Bühne der Demokratie plaziert und von allen beurteilt wurden — da konnte das ganze Land zusehen und sich beteiligen. Aber wo ist da Hexenjagd am Werk, wenn Menschen die Beweise abwägen und danach entscheiden, was falsch und was akzeptabel war? Hexenjagd gibt es nur dort, wo jemand in einem finsteren Regierungsbüro solche Entscheidungen für die ganze Gesellschaft trifft.
Nein, dieser Prozeß ist so fair und offen, wie man sich ihn nur wünschen könnte — das Handeln jeder Person soll in einem offenen Austausch von Informationen beurteilt werden. Der anfängliche Instinkt des Runden Tisches war daher richtig: daß dieser Prozeß ein ursächlich östlicher sein müsse, sollte er denn je kathartische und heilende Wirkung haben. Jetzt die Archive zu schließen und den Politikern das Feld zu überlassen, wie einige in Bonn fordern, hieße, die ohnehin schon tiefsitzenden Gefühle von Minderwertigkeit und Machtlosigkeit der Menschen im Osten zu verschlimmern.
Als Deutschland zum letzten Mal solch eine Chance hatte — nach 1945, während der Zeit der Entnazifizierung —, scheiterten die Alliierten, einen solchen Prozeß in Gang zu setzen. Man hätte die Öffentlichkeit damit konfrontieren müssen, was jeder einzelne Deutsche getan hatte, was jeder Deutsche gewußt hatte. Ohne ein solches Verfahren wurde die Entnazifizierung zu einer Weißwascherei, die belasteten Richtern erlaubte, auf ihre Richterbänke zurückzukehren, den Offiziellen, dann wieder in politischen Ämtern aufzutauchen. All das führte zu belasteten Wesen, die ihr Leben weiterlebten und die wußten, daß sie noch mal davongekommen waren.
Diesmal waren die westdeutschen Stellen — dieses Verdienst sollte man ihnen anrechnen — offen für das Konzept einer östlich-administrierten Vergangenheitsbewältigung. Erst jetzt, wo die Schmerzen dieses Prozesses sichtbar werden, mehren sich Stimmen gegen die Presse, da diese doch helfen würde, die alten Wunden offenzulegen. Traurigstes Kapitel der Stasi-Geschichte der letzten beiden Monate sind aber nicht die „Exzesse“ des 'Spiegel‘, sondern ist das Versagen fast der gesamten deutschen Presse. Sie sollte all die Ressourcen der Stasi-Akten aggressiv nutzen, um ein präzises Bild des Systems zu zeichnen, und wie dieses fast alle durchschnittlichen Menschen umgarnte und bestrickte.
Gerade diejenigen Ostdeutschen, die nun beklagen, die Orgie der Information über die Stasi würde alle östlichen Exponenten und Führungspersönlichkeiten niederreißen, sind doch oft identisch mit jenen, die lamentieren, dieselben alten Parteibonzen säßen immer noch in den Stadtverwaltungen und in den Führungsetagen der Betriebe. Was jetzt not tut, ist noch mehr Enthüllung. Wir brauchen noch mehr Berichte und Reportagen über die alten Kader und Seilschaften in den Führungspositionen der Betriebe, in den kommunalen und Landesregierungen, in den landwirtschaftlichen Betrieben.
Erst dann kann die Öffentlichkeit — und damit meine ich zuallererst die ostdeutsche — für sich selbst entscheiden, welches Maß an Verwicklung noch akzeptabel war, wer die unsichtbare Linie überschritt und — was ebensowichtig ist — wer es nicht tat. Marc Fisher
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