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Archiv-Artikel

Fußball mit den Ohren sehen

Ein Besuch im Fußballstadion gehört auch für viele Sehbehinderte zum Wochenendprogramm. Angefangen in Leverkusen hat der Live-Kommentar für Blinde und stark Sehbeeinträchtigte längst den Norden erreicht. Beim Hamburger SV ist einer, ganz Ohr, bei jedem Spiel dabei: Rico Zellmer

VON JULIAN KÖNIG

Es wird laut im Stadion des Hamburger SV. Die Fans singen, wie vor jedem Heimspiel, gemeinsam mit Lotto King Karl und Carsten Pape den Fußball-Gassenhauer „Hamburg meine Perle“. Im Block 3c auf der Osttribüne stimmen Rico Zellmer und Michael Conrad mit ein. Die beiden haben Kopfhörer auf, die sie in den kommenden 90 Minuten nicht abnehmen werden. Beide sind blind bzw. stark sehbehindert und bekommen das Spiel live kommentiert.

Wenn die letzten Takte von „Hamburg meine Perle“ erklingen und die Hebebühne, auf der die Sänger vor der Nordkurve stehen, langsam hinunter fährt, beginnt der Einsatz von zwei Hamburger Sportstudenten. Jeweils mit einem Headset mit Mikrofon bewaffnet wird routinemäßig per Handzeichen abgefragt, ob alle über ihre Kopfhörer die Reporter empfangen können. Dann geht es los und auf insgesamt 16 Plätzen können die Sehbehinderten alle Heimspiele des Hamburger Bundesligisten verfolgen.

Die meisten Fußballfans kennen das Gefühl, ein Spiel zwar hören, aber nicht sehen zu können. Jedes Wochenende verfolgen unzählige Fußballliebhaber an Spieltagen die „Bundesligashow“ im NDR. Im Unterschied zur Reportage im Block 3c, darf das Spiel im Rundfunk allerdings nur in Bruchstücken abgebildet werden. Eine Vollreportage findet man nur noch im Internet und dort wird in der Regel vom Fernseher wegkommentiert. Zusätzlich ist es für die Blinden ein besonderes Erlebnis ins Stadion zu gehen. Sie nehmen am Leben teil, können hinterher detailliert mitdiskutieren und von Spielszenen berichten.

Auch deshalb sind die Plätze beliebt. Begann das Projekt zur Rückrunde 2002 / 2003 noch mit einer kostenlosen Testphase, ist es längst auch in anderen norddeutschen Stadien etabliert. „Wir haben beim HSV eine Auslastung von knapp 85 Prozent“, sagt Broder-Jürgen Trede, Mitinitiator und Betreuer des Projekts.

Als dritter Profi-Verein nach Leverkusen und Schalke nahm der Traditionsverein das Projekt auf. Mit dem FC St. Pauli zog 2004 der kleinere Hamburger Verein nach. 2005 folgten im Norden Hannover 96, der VfL Wolfsburg und Eintracht Braunschweig. Als vorerst letzter Nordclub bietet seit 2007 auch Hansa Rostock den Service an. Werder Bremen will in dieser Saison an den Start gehen. Laut Pressesprecher Tino Polster fehlt es nur noch an geeigneten Reportern.

Auch in Hamburg gab es zunächst Startschwierigkeiten. „Beim HSV hieß es erst, dass eine Umsetzung nicht möglich wäre. Doch dann hat Vorstandsmitglied Christian Reichert den Kontakt zum Sportfachbereich der Universität Hamburg hergestellt“, sagt Regina Hillmann, Vorsitzende der „Sehhunde“, ein Fußball-Fanclub für Blinde und Sehbehinderte. „Es ist wichtig, dass sich jemand im Verein der Sache annimmt und dahinter steht“, erzählt sie. Broder-Jürgen Trede dozierte zum Zeitpunkt der Anfrage am Hamburger Institut für Sportjournalistik und nahm die Idee auf.

Der 43-jährige Klavierstimmer Zellmer besitzt eine Dauerkarte und hat in den letzten beiden Jahren lediglich ein Heimspiel seiner Mannschaft verpasst. Noch bevor es das Projekt in der Hansestadt gab, war Zellmer fleißiger Stadiongänger, ging mit seinem Vater oder seinem Bruder zum Fußball. Im Stadion ließ er sich von ihnen das Geschehen auf dem Spielfeld erzählen. „Leider fehlten mir hinterher immer ein paar Details“, erzählt Zellmer. „Jetzt bekomme ich alles mit. Die Studenten haben interessante Statistiken und wissen auch viel über die gegnerischen Mannschaften“, führt er fort und sagt, das Angebot habe sein Stadionerlebnis aufgewertet.

„Schieß doch“, ruft Zellmer rein und fordert den Abschluss, doch die Situation kann von Hannovers Verteidiger Vinicius geklärt werden. „Der ist doch Brasilianer“, sagt Zellmer, als ein Kommentator den 96er als Italiener ausweist. „Richtig, aber mit italienischen Pass“, antwortet der Reporter. Solche Dialoge entstehen, wenn die Kommentatoren Rufe aus dem Hintergrund in ihre Reportage einbauen. „Ich merke manchmal gar nicht, dass das, was ich sage, so laut ist“, sagt Zellmer. Seine aktive Teilnahme an der Reportage freut die Studenten, die ihr so mehr Leben einhauchen können.

Hier liegt auch ein Hauptunterschied zur Rundfunk-Reportage. „Wir sitzen direkt zwischen den Blinden und können auf unsere Zuhörer reagieren, bekommen praktisch vorgeschrieben, was wir zusagen haben“, sagt Trede. „Wir verorten das Spiel viel mehr auf dem Feld, nennen eher Positionen als Namen. Das ist im Radio etwas anders. Unsere Schilderungen sind zudem ausführlicher. Die Zuhörer interessiert, was für Transparente zu sehen sind. Wer läuft sich gerade warm? Was machen die Trainer in der Coaching-Zone? Geht eine Laola-Welle durch das Stadion? Wir müssen genau das abbilden, was ein klassisches Stadionerlebnis ausmacht. Die Sehbehinderten spüren außerdem äußerliche Bedingungen noch viel intensiver als wir“, erzählt Trede.

Zu dritt wuppen die Studenten die 90 Minuten. Zwei am Mikrofon, die sich abwechselnd die Bälle zuspielen, und einer berichtet von den Spielständen in den anderen Stadien. „Ich habe einen hohen Anspruch und die Schilderungen der Spiele sind wirklich immer besser geworden“, sagt Zellmer. „Wenn ich im Stadion sitze, bin ich immer auf Ballhöhe – das machen die Jungs wirklich gut.“ Die Studenten arbeiten viel mit der Stimme, variieren Tonlage und Geschwindigkeit, passen diese der Spielsituation an. Zellmer und Conrad sitzen hinter den Reportern. Conrad, der noch etwas sehen kann, verfolgt das Spiel zusätzlich durch ein Fernglas. Zellmer hört konzentriert zu, meist eine Hand am Kopfhörer.

Zellmer und Conrad lauschen den Ausführungen, erahnen den richtigen Moment für den tödlichen Pass. Die beiden haben ein Gespür für die Situationen entwickelt. Neben den Ausführungen der Kommentatoren achten sie auch auf die Atmosphäre. Wird das Raunen im Stadion lauter, wissen sie, dass sich auf dem Feld etwas tut.

Nach gewonnen Spielen bleiben viele Sehbehinderte noch ein bisschen sitzen, lassen sich die Jubelszenen auf dem Spielfeld beschreiben. Bei drohenden Niederlagen wird der Sitzplatz stilecht auch gerne mal fünf Minuten vor Abpfiff verlassen. Zellmer muss dann erstmal durchatmen, seinem Ärger ein bisschen Luft machen. Diesen aber bekommen die Reporter dann nicht mehr mit. Gemeinsam mit seiner Begleitung verlässt er das Stadion, ruft noch freundlich ein „Gut gemacht, bis zum nächsten Mal“ zu – und ist weg.