Fusion von AOL und Time Warner wird das Internet nicht bedrohen: Der Megakonzern ist nicht flexibel genug: Keine Panik vor Big Brother
Sie galt als größter Fusionsdeal aller Zeiten: die Übernahme des traditionsreichen Medienkonzerns Time Warner durch das nahezu geschichtslose Internet-Unternehmen America Online. AOL ist eine Art Internet-Pförtner. Stellt man sich das Internet nämlich als gigantisches Informations-, Klatsch- und Tratsch-, Erlebnis-, Entertainment- und Einkaufszentrum vor, als eine Art Ultrahochhaus, flächiger und höher als das World Trade Center, dann sitzen in der untersten Etage die Internet-Provider. Als autonome Pförtner mit der Lizenz, Eintritt zu nehmen. Die meisten dieser Kontrolleure gestalten ihre Eingangsbereiche zweckmäßig, informativ und kleindimensional, schlicht der Kosten wegen. AOL hingegen hat seinen Eingang von Anfang an zu einer ganz eigenen Erlebniswelt aufgebaut, immer größer, immer bunter, und ist beim Eintrittspreis vergleichsweise teuer. Mit 16 Millionen Kunden ist AOL derzeit weltweit am größten.
Doch nicht nur das. Dem Vertrauen und dem Geld vieler Aktienkäufer verdankt es AOL-Chef Steve Case, dass sein Unternehmen nicht nur groß, sondern auch kaufkräftig wurde – und dass er mit Time Warner einen der international mächtigsten Medienkonzerne und eines der weltweit gewaltigsten Unternehmen übernehmen konnte. Bei dem Gedanken an das nun gemeinsame Kapital wird einem ganz untertänig zumute. Beherrschen diese beiden Giganten jetzt nicht das halbe Internet? Tritt das Internet nach seiner weitgehenden Kommerzialisierung nun in die Phase der McDonaldisierung: Gibt es jetzt überall den gleichen, faden Infotainment-Fraß? Wettbewerb, Vielfalt, Demokratie adieu?
Kein Grund zur Big-Brother-Panik. Zunächst haben sich mit AOL und Time Warner zwei Partner gefunden, die einander ergänzen: AOL hat die Surfer, aber zu wenig zwingende, global Poppige, gut verkäufliche Inhalte, schon gar nicht exklusiv. Umgekehrt hat Time Warner Verlage und Publikationen, Sender und Sendungen, Musikfirmen und Musik, konnte aber bisher kaum Surfer an sich binden, schon gar nicht gegen Bezahlung. So gesehen hat sich mit der Fusion eine vermeintliche Kontrolle über das Internet keineswegs verdoppelt. AOL/Time Warner steht jetzt lediglich besser da als die meisten anderen großen Provider und als so manch anderes große Medienunternehmen – obgleich Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff seinen Konzern weiterhin gern als im Internet „am besten aufgestellt“ markiert.
Ich will die Größe und den Einfluss der neuen Megafirma AOL/Time Warner keineswegs herunterspielen, im Gegenteil: Aber betrifft die Vereinigung zweier Giganten zu einem Giga-Giganten (Terranten?) letztlich nicht nur die Liga, in der beide schon bisher spielten: eben die Liga der global agierenden Giganten? Wie viele, besser gesagt, wie wenige Internet-Companies – seien es ein mittelgroßer Online-Publisher, ein kommerzieller Special Interest Shop, ein innovatives Start-up-„dot.com“, ein engagiertes Non-Profit-Forum oder eine expandierende E-Business-Company – konnten sich denn bislang mit einem der beiden messen? Ob nun in Kapitalkraft oder in Reichweiten beziehungsweise Kundenzahlen?
Die Situation all dieser Anbieter und auch die Vielfalt des Mediengeschehens verändern sich durch Elefantenhochzeiten wie die AOLsche wenig, wenn überhaupt. Was hat sich beispielsweise seinerzeit für ein deutsches Independent-Label verändert, als Sony die CBS gekauft hat? Gar nichts! Gewiss kleistert so ein Mammut-Unternehmen – wie AOL/Time Warner – jetzt nicht nur jede erdenkliche Bildschirmlücke mit Werbebannern zu, sondern auch noch die Städte mit Werbeplakaten, die Stadien mit Werbetafeln, die Fernseh- und Radiosender mit Werbespots und die Geschäftskunden mit Werbegeschenken. Weil so einer nur in Millionen Kunden, Millionen Nutzern und Millionen Käufern denken kann, ja denken muss, hat er marketingmäßig gehörig zu trommeln. Und gewiss wird das seine Wirkung haben und Publikum anziehen, vielleicht auch millionenhaft.
Wie im richtigen Leben muss aber auch im Cyberspace lautes Marketing-Tamtam durch Taten eingelöst sein. Im Internet spielt unter anderem die Individualität der Ansprache eine wichtige, mitunter entscheidende Rolle: Das Netz erlaubt dem Kunden den Eingriff in das Geschehen und die unmittelbare Interaktion mit dem System, mit den Seitenbetreibern sowie mit anderen Nutzern. Weil das Internet also die Vernetzung von Menschen und Inhalten ermöglicht, kann hier die Kommunikation besonders individuell sein. „Die persönliche Website“ ist ja auch eine beliebte Werbebotschaft – und fast immer ein Fake.
Diesen Anspruch auf individuellen Service können die Gigangten im Netz nicht erfüllen. Zwar bieten Internet-Audio-CD-Shops wie Amazon oder CDnow eine riesige Titelfülle, moderate Preise, ausgefeilte Lieferlogistik und reizvolle Nützlichkeiten wie Listen von Lieblingskünstlern, die durch den Anwender beliebig erweitert werden können. Doch wer nun erwartet, dass der entsprechende E-Mail-Newsletter des Shops aktuell über die Neuerscheinung der eigenen Lieblingsband informiert, der hat sich getäuscht: Wie das WOM-Magazin lobpreisen auch die digitalen Postwurfsendungen der Online-Shops primär und generell die Big Seller – geradewegs am speziell interessierten Kunden vorbei. Ausnahmen, die mir als interessiertem Vielnutzer solcher E-Mail-Services allerdings noch nicht untergekommen sind, bestätigen allenfalls die Regel.
So etwas schreit nach Alternativen. Und die sind im Internet nur einen Mausklick entfernt! Selbstverständlich sind dabei Hürden zu überwinden. So ist es weder leicht noch billig, ein eigenes, überzeugendes, funktionierendes und womöglich auch wirtschaftliches Internet-Angebot aufzubauen und zu halten – so fokussiert die Zielgruppennische auch gewählt sein mag. Und auch wenn die Rahmenbedingungen in der digitalen, vernetzten Welt des World Wide Web generell eher besser geworden sind – dank veränderter (dematerialisierter) Wertschöpfungsketten und niedrigerer Kostenstrukturen –, bleibt es trotzdem schwer, ein Publikum zu finden: Das geht selbst im Massenmedium Internet nicht müheloser als bisher. Wenn man aber die Kunden erst mal hat, dann ist das Internet tatsächlich geeigneter als jede andere Plattform, um ihnen durch wirklich individuellen Service nah zu bleiben und sie zu binden.
Die Erfahrung zeigt: Je übersichtlicher einzelne Firmen oder Gruppen dimensioniert sind, desto schneller lernen sie ihre – übersichtlich bleibende – Klientel kennen und können sie persönlich bedienen. Oder andersherum gesprochen: An der so gern postulierten Individualisierung scheitern besonders die großen, globalen Anbieter. Individualität für Millionen geht eben auch im Internet nicht so leicht, schlicht der Kosten wegen.
Noch mal: AOL/Time Warner ist ein Riese. Ein Unternemen, das viel, viel Musik, große Popkünstler, flächendeckend verbreitete Fernsehsender und eingeführte Zeitschriften zu bieten hat. Das zieht Millionen an, das bindet Werbegelder, das macht Meinung, kein Zweifel. Doch das Internet bietet nicht nur dem Verbraucher Alternativen, sondern auch Künstlern und unabhängigen Inhalte-Produzenten. Gewiss, schon bald wird AOL/Time Warner den Hebel der Exklusivität ziehen und beispielsweise die neueste Produktion von, sagen wir, Madonna zuerst und ausschließlich für AOL-Abonnenten vorhalten. Aber das will gut austariert sein – weil sich sonst womöglich Kanzler Schröder oder das Bundesverfassungsgericht einschalten und, wie weiland bei den Übertragungsrechten zur Fußball-WM, bestimmte Inhalte für „allgemein zugänglich zu haltend“ erklären. Und nebenbei, selbst noch so Exklusives bleibt im Internet nicht lange exklusiv.
Nein, nein, das Internet ist nicht so leicht zu monopolisieren. Gerade im Entertainment- und Medienbereich würde nichts mehr gehen, gäbe es nur große Giganten und keine Masse an kleinen und mittleren Gefügen, kein Netzwerk. An ein Leben im Windschatten der Giganten haben sich alle längst gewöhnt, so lange in dieser Liga genügend Wettbewerb bleibt, spielt die Größe der Kontrahenten kaum eine Rolle.
Und selbst Megadeals kommen jetzt schon in Serie: Wenige Wochen nach dem AOL/Time-Warner-Geschäft und der Time-Warner/EMI-Fusion gilt jetzt die finale Mannesmann-Übernahme durch Vodafone als der allergrößte Giga-Deal aller Zeiten. Fürs Nächste zumindest. Henry Steinhau
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen