: Funktionieren unter Vorbehalt
Die ostdeutschen Eliten kommen zu wenig zu Wort, glaubt der junge Journalist Gunnar Hinck. In seinem Buch stellt er deshalb 14 interessante Entscheidungsträger aus Ostdeutschland vor
Wenn Journalisten ein paar Jahre lang die neuen Bundesländer beobachtet haben, schreiben sie irgendwann ein Buch drüber. Täglich Schrumpfung, Arbeitslosigkeit und Rechtsextremismus vor Augen, verfassen sie aufgeregte Appelle, wie die Misere zu beheben sei: Welt-Redakteur Uwe Müller in „Supergau Deutsche Einheit“ zum Beispiel, Jens Bisky von der Süddeutschen in „Die Deutsche Frage“ oder der ZDF-Moderator Wolfgang Herles in „Wir sind kein Volk“. Die Autoren benennen Probleme, die sonst angeblich tabuisiert werden, und machen Lösungsvorschläge, die schnell mal jemand umsetzen müsste – es ist ein nervtötender Literaturzweig, der da entstanden ist.
Auch Gunnar Hinck, geboren 1973 in Stade, hat sich einige Jahre als Journalist in Ostdeutschland getummelt, als Volontär und Redakteur verschiedener Regionalzeitungen. Auch er hat seine Beobachtungen zu einem Buch verarbeitet – zum Glück in ein unaufgeregtes und wenig apodiktisches. Die Problemlage beschreibt er sehr präzise: Die ostdeutschen Länder haben ihre Rolle in der Bundesrepublik nicht gefunden und beschränken sich auf die der Alimente-Empfänger; gut ausgebildete, junge Menschen ziehen weg, die Bevölkerung schrumpft und überaltert; die Arbeitslosigkeit ist höher, der Rechtsextremismus erfolgreicher als im Westen.
Als verantwortlich für den gescheiterten Aufbau Ost benennt Hinck die „Funktionseliten“ im Osten, also diejenigen, die mit Ämtern, Mandaten und Jobs in Wirtschaft und Politik Entscheidungen treffen, die das Leben der Menschen vor Ort direkt betreffen. „Es ist eine stille, kaum zu vernehmende Elite“, die der Journalist beobachtet hat: „Sie ist ohne eigene Sprache. Sie marginalisiert sich selbst und damit den Osten insgesamt. Sie kann keine Orientierung geben, weil sie selbst ohne Orientierung ist.“ Mit dieser Kernthese beschreibt der Autor die Probleme im Osten und stellt konsequenterweise 14 Porträts von Mitgliedern der Funktionseliten in den Mittelpunkt seines Buches.
Vorgestellt werden Politiker, Journalisten und Manager: Ministerpräsidenten, Chefredakteure, Richterinnen. Darunter sind bekannte Figuren wie Matthias Platzeck und eher unbekannte wie Hans Deppe, Geschäftsführer der Dresdner Chipfabrik, die gerne als sächsischer „Leuchtturm“ beschrieben wird. Jedes der Porträts hat eine Aufgabe, soll ein in der Einleitung beschriebenes Problem pars pro toto darstellen. Hincks Idee des „stellvertretenden Porträts“ funktioniert zwar nur bedingt. Doch sind die Personen um ihrer selbst willen interessant, außerdem verfügt der Autor über eine genaue Beobachtungsgabe und er kann schreiben.
Die Lektüre wird immer dann spannend, wenn die Porträtierten das Interesse des Autors zu wecken vermochten und er sie nicht nur als Beleg für seine Thesen nutzt. Etwa die PDS-Politikerin Gabriele Mestan. Die Parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion im Landtag Mecklenburg-Vorpommerns erlebte das Ende der DDR als 2. SED-Kreissekretär im Kreis Hagenow, Bezirk Schwerin. Sie habe in der Zeit manchmal das konkrete Gefühl gehabt, „dass die Leute sie am liebsten am nächsten Baum aufgehängt hätten“. Nach Arbeitslosigkeit, Weiterbildungen und Jahren im Betrieb ihres Mannes startete Mestan ihre zweite Karriere in der PDS.
Vier Interviews hat Gunnar Hinck mit ihr geführt, in denen sie ihm viel erzählt über sich und ihren Werdegang als SED-Kader in der DDR. Sie war in ihrem Kreis an der Organisation der massiv gefälschten Kommunalwahlen vom Frühjahr 1989 beteiligt und sagt, „mit der Drecksarbeit war ich nur wenig vertraut. Wie die das gemacht haben, das habe ich nicht hinterfragt.“ In der heutigen Bundesrepublik funktioniere sie „gewissermaßen unter Vorbehalt“, so der Autor. Sie sehe den Kapitalismus nicht als endgültige Lösung, meint aber „Ich stehe auf dem Boden dieses Grundgesetzes, aber es ist nicht das Letztgültige für mich.“
Es ist ein Verdienst des Autors, dass er sich für die Lebensläufe, Motivationen und Einschätzungen seiner Protagonisten interessiert und sie in den Mittelpunkt stellt. Anders als sonst oft im gesamtdeutschen Diskurs kommen die ostdeutschen Eliten hier tatsächlich zu Wort. Die 15 nachgestellten Vorschläge zur Verbesserung der Lage seien ihm daher verziehen. Seine kluge Einleitung und die dichten Porträts lohnen die Lektüre. HEIKE HOLDINGHAUSEN
Gunnar Hinck: „Eliten in Ostdeutschland. Warum den Managern der Aufbruch nicht gelingt“. Ch. Links, Berlin 2007, 214 Seiten, 16,90 Euro