: Für tot erklären
■ Darf ein Arzt bei einer Hinrichtung assistieren? - Ein Gespräch über Ethik
Dr. Kapihl: In Virginia benutzen wir für Hinrichtungen den elektrischen Stuhl. Mit der eigentlichen Hinrichtung habe ich allerdings nichts zu tun, weder mit der Planung noch mit den Vorbereitungen oder sonst dergleichen. Meine Rolle beschränkt sich auf den kurzen Moment, nachdem alles vorbei ist, auf die Untersuchung und Toterklärung.
Ich bin zwar im selben Gebäude, allerdings in einem anderen Flügel, ich kann nicht einmal sehen, was da vor sich geht. Nach dem Abschalten des Stroms warten die drei, vier Minuten. Dann kommt ein Gefängnisangestellter und bittet mich in die Hinrichtungskammer. Dort untersuche ich den Patienten und erkläre ihn für tot. Ich wende mich also zum Wärter um und sage: „Dieser Mann atmet nicht mehr.“
Ich meine nicht, daß diese Arbeit gegen den Hippokratischen Eid verstößt – der besagt, daß ich nur „zum Guten meiner Patienten wirken darf“; ich habe ja mit der Hinrichtung selbst nicht das geringste zu tun. Übrigens hat die amerikanische Medizinervereinigung vor ein paar Jahren in einer Resolution festgestellt, daß Ärzte an Hinrichtungen nicht beteiligt sein dürfen, außer eben zur Bescheinigung des Todes. Seit 30 Jahren habe ich mit Erschossenen, Erstochenen oder Selbstmördern zu tun, denen ich in der Notaufnahme nur noch den Tod bescheinigen konnte. Mit dem, was davor stattfand, hatte ich ebenso wenig etwas zu tun wie mit der Tötung durch Stromschlag im Gefängnis.
Dr. Bloche: In den letzten Jahren ist die Definition der „Beteiligung“ sehr viel genauer geworden. Die amerikanische Medizinervereinigung AMA und andere Gruppierungen vertreten die Meinung, daß auch die Toterklärung eine unerlaubte Beteiligung, daß sie unethisch ist. Und das ist das zentrale Problem: Wenn Sie nämlich in die Todeskammer gehen, nachdem der Stromstoß gegeben wurde, dann ist Ihre Rolle keine symbolische mehr, sie ist zentral. Sie entscheiden, ob die Hinrichtung weiter vollzogen wird. Denn wenn der Mensch, den Sie da zu untersuchen haben, noch lebt, ist die unmittelbare Konsequenz Ihrer Worte, daß man ihm einen weiteren Stromstoß geben wird.
In der Notaufnahme werden für jemanden, der noch lebt, schließlich alle Mittel des Krankenhauses eingesetzt, um das Leben dieses Patienten zu erhalten – wie es der Hippokratische Eid vorschreibt. In der Hinrichtungskammer wird es aber an dem Punkt verletzt, wo Ihre Feststellung, ob ein Mensch noch lebt oder schon tot ist, zu dessen endgültiger Hinrichtung führt.
Dr. Kapihl: Daß das passiert, ist nur eine sehr theoretische Möglichkeit. Wie die Dinge nun mal liegen, muß das eine hypothetische Frage bleiben.
Dr. Bloche: Das ist nicht hypothetisch. In der Dokumentation „Breach of Trust“ (Vertrauensbruch) wird nachgewiesen, daß das schon in vielen Staaten vorgekommen ist.
Dr. Kapihl: Gut, ich stimme Ihnen zu, es ist möglich. Aber die Möglichkeit, daß es passiert, tendiert gegen null.
Dr. Bloche: Aber das ist doch nicht richtig, daß Ärzte nur sagen „Wir wollen uns die Hände nicht schmutzig machen, also wollen wir nichts direkt damit zu tun haben“ – und das ist alles. Die ethische Frage entsteht doch aus dem simplen Grundsatz dessen, was Ärzte tun – nämlich sich um ihre Patienten kümmern. Und zwar nicht selten eben genau dann, wenn diese Patienten extreme Momente durchleben oder verzweifelt sind.
Die kritische Frage ist doch, wie vertrauenswürdig ein Arzt in den Augen des Patienten ist. Wenn Ärzte nun diese tödliche Rolle im Auftrag des Staates und nicht in dem des Patienten spielen, untergräbt das doch unter Umständen ihre therapeutische Glaubwürdigkeit und ihre Funktion als Heilende und Tröstende insgesamt.
Wenn ein ganz gewöhnlicher Patient so einen Arzt befremdlich findet, anders als die Ärzte, mit denen er selbst zu tun hat, dann bestimmt das doch auch ein Bild von diesem Beruf, was wiederum die Erwartung der einzelnen an ihren Arzt prägt. Gerade bei Gefangenen gibt es diese verschwommene Auffassung von der Rolle der Ärzte häufig. Da spielt immer die Angst mit hinein, daß da einer – der oder die so tut, als ginge es um die Bedürfnisse des Gefangenen – womöglich eine viel negativere Rolle spielt.
Dr. Kapihl: Ja, da sehe ich auch ein Problem. Und ich habe mich entschieden, daß ich mich, wenn meine Regierung mehr von mir verlangt als diese Toterklärungen, verweigern werde. Zum Beispiel, falls der Gesetzgeber von Virginia beschließt, dem Verurteilten die Wahl zwischen elektrischem Stuhl und tödlicher Injektion zu lassen. Ich glaube, das ist vom Gouverneur noch nicht unterschrieben, aber wir rechnen damit, daß es durchkommt.
Wenn das passiert, werde ich ein Memorandum an alle Krankenschwestern und Ärzte schicken und sie auffordern, nicht an der Herstellung der Lösung und auch nicht an der Injektion teilzunehmen. Das wäre meiner Meinung nach eine direkte Beteiligung an der Hinrichtung. Dann werde ich wirklich keine andere Wahl haben, als mich absolut zu verweigern.
Das Dilemma, das durch die geringe Möglichkeit entsteht, daß eine Tötung beim ersten Anlauf nicht erfolgt ist, bleibt aber. In einem solchen Fall wäre ich in der Tat hin- und hergerissen zwischen meiner medizinischen Pflicht, sofort mit der Wiederbelebung zu beginnen, und meiner anderen Pflicht, dem Gefängnisbeamten sagen zu müssen, daß er noch einmal Strom einleiten soll. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich täte, wenn das passiert.
Dr. Bloche: Der Bericht „Breach of Trust“ und die Stellungnahmen der medizinischen und Menschenrechtsorganisationen geben Ihnen und Ihren Kollegen dafür eine wichtiges Instrument an die Hand. Sie können ihren Vorgesetzten und der Legislative von Virginia sagen: „Eine Berufsorganisation, die sich Gedanken um ihre eigene Ethik macht, hat diese Position bezogen. Alle Menschenrechtsorganisationen haben diese Position eingenommen. Und das sollte Euch, meine Vorgesetzten, beeinflussen, wenn Ihr weiterhin verlangen wollt, daß Ärzte bei Hinrichtungen dabei sind, in die Hinrichtungskammer gehen und den Verurteilten für tot erklären sollen.“
Sie hatten den Mut, das Dilemma, mit dem Sie zu tun haben, hier deutlich und öffentlich anzusprechen. Wir wollen auch andere Gefängnisärzte ermutigen, die vielleicht nicht soviel Mut haben wie Sie, sich ebenfalls öffentlich zu äußern und darüber nachzudenken. Und ihren Vorgesetzten und der Legislative zu sagen: Hört auf, das von uns zu verlangen. Es ist falsch.
Dr. Kapihl: Das stimmt, und wir müssen uns das noch einmal sehr genau ansehen. Ich werde mit meinen Kollegen sprechen, und nicht nur mit denen in Virginia, sondern auch in anderen Gefängnisanstalten, und wir müssen uns da was einfallen lassen.
Dr. Bloche: Ein Punkt noch: Diese Debatte ermächtigt Sie und Ihre Kollegen auch noch in anderer Hinsicht. Sollte nämlich ein Vorgesetzter Sie oder einen Ihrer Kollegen dafür disziplinieren wollen, daß Sie sich weigern, diese Toterklärungen auch weiterhin zu machen, dann müßten sich die erwähnten Organisationen eindeutig und öffentlich hinter Sie stellen.
Dr. Kapihl: An die Möglichkeit, daß die Geräte auch einmal versagen können, habe ich nie gedacht. Im Hinterkopf wußte ich wahrscheinlich, daß das passieren kann, aber eigentlich habe ich das eher für ein geringes Risiko gehalten. Als ich das erste Mal mit einer Hinrichtung zu tun hatte, war das ein sehr verstörendes Erlebnis – schwierig zu sagen, was ich dachte. Als ich nach Richmond zurückfuhr, war ich ganz zerrissen von widerstreitenden Gefühlen darüber, was ich gerade getan hatte. Aber die Bevölkerung von Virginia hat sich diesbezüglich deutlich geäußert, und die Todesstrafe ist legal, sie ist gesetzlich.
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