: Für jedes Neugeborene gibt es Geld oder einen Kühlschrank
RUSSLAND II Die Bevölkerung schrumpft dramatisch. Gründe: niedrige Geburtenrate und Alkoholismus
AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH
Das Problem ist seit Langem erkannt. Russlands Bevölkerung schrumpft jährlich um mehr als eine Million Menschen. Der größte Flächenstaat der Welt steht vor einer bislang unbekannten Herausforderung. Zwar verfügt er über riesigen Raum, aber kein Volk, das diesen besiedeln könnte.
2006 erhob Expräsident Wladimir Putin die Überwindung der demografischen Krise im Bericht zur Lage der Nation zu einer der dringlichsten Aufgaben der Politik. Zurzeit leben in Russland 142 Millionen Menschen, setzt sich der Abwärtstrend jedoch fort, dürften 2050 nur noch 116 Millionen Bürger in der Russischen Föderation wohnen. Noch rangiert Russland auf Rang 9 weltweit, Mitte des Jahrtausends könnte es bereits auf den 14. Platz gesunken sein.
Den Aufruf des Kremlchefs, den negativen Trend zu korrigieren und für Kinder zu sorgen, griff der Gouverneur der Region Uljanowsk, Sergei Morosow, sofort auf. Am Tag der nationalen Unabhängigkeit, dem 12. Juni 2008, kamen im Gebiet Uljanowsk 87 Babys zur Welt, fast dreimal so viel wie an einem gewöhnlichen Tag. Der 12. Juni war kein gewöhnlicher Tag, sondern Stichtag eines außergewöhnlichen Wettbewerbs, den der Gouverneur im Vorjahr ausgeschrieben hatte: „Bringe am Tag Russlands einen Patrioten zur Welt“, lautete das Motto.
Geldpreise, Waschmaschinen und Kühlschränke warteten auf die Zeuger. Die jungen Eltern nahmen auch noch an der Verlosung eines Jeeps der Marke Patriot aus den Uljanowsker Autowerken teil. Da die Aktion auf großen Zuspruch stieß, bescherte der Gouverneur den Bürgern auch noch einen zusätzlichen Feiertag. Den 12. September – genau neun Monate vor dem nationalen Feiertag – erhob er zum Tag für „familiäre Kommunikation“.
Nach Angaben der russischen Bevölkerungsstatistiker nahm die Geburtenrate in den letzten Jahren auch wieder leicht zu. Gebar eine Russin in den 1990er Jahren nur 1,16 Kinder (1989: 1,89), bringt sie inzwischen 1,54 zur Welt. Die Gebärfreudigkeit reicht unterdessen nicht, um die Sterblichkeitsquote auszugleichen. Nur in 3 der 89 Verwaltungsgebiete der Russischen Föderation werden mehr Kinder geboren, als Abgänge zu verzeichnen sind. Es sind die Republiken Tschetschenien, Altai und Tuwa an der chinesischen Grenze, allesamt arme ländliche Regionen, wo traditionelle Bande die Großfamilien prägen und Landwirtschaft dominiert.
In 18 Regionen ist überdies die Geburts- und Sterberate ausgeglichen, 17 davon sind jedoch Siedlungsgebiete nichtrussischer Minderheiten. Das Geburtengefälle zu den kleineren nichtslawischen Völkern wird in der russischen Öffentlichkeit mit gemischten Gefühlen beobachtet. Überfremdungsängste vor allem gegenüber muslimischen Minderheiten werden geschürt. Diese Befürchtungen sind aus der Luft gegriffen. Der Anteil der muslimischen Bevölkerung liegt bei maximal 20 Millionen, der 120 Millionen ethnische Russen gegenüberstehen. Bis die Muslime die Oberhand erlangen, dürfte es noch mehrere Generationen dauern.
Viel dramatischer wirkt sich der Bevölkerungsrückgang im Fernen Osten Russlands und in den unwirtlichen Regionen des hohen Nordens aus. Da kein Entwicklungskonzept für diese Randzonen vorliegt, verlassen immer mehr Einwohner die Gebiete in Richtung Zentralrussland. Der Ferne Osten verlor seit 1990 mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung.
Der entscheidende Grund für den Schrumpfungsprozess ist jedoch nicht allein in der niedrigen Geburtenrate zu suchen. Viel schwerer wiegt der schlechte Gesundheitszustand. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes liegt bei 58,4 Jahren, die einer Frau bei 71,9 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann im arbeitsfähigen Alter zwischen 15 und 60 Jahren stirbt, betrug 48 Prozent im Jahr 2006 (Deutschland 11,2).
Eine Ursache ist die schlechte medizinische Versorgung, eine andere Alkoholismus. Fast die Hälfte aller Todesfälle im Alter zwischen 15 und 60 Jahren ist auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen. Kinder, Kinder!