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Archiv-Artikel

„Für die Staatsoper zählt jeder Monat“

Die Staatsoper Unter den Linden verfällt. Zwischen den Kulissen machen Schauspieler große Kunst – unter lebensgefährlichen Bedingungen. Inzwischen hoffen in der Oper alle auf die Millionenspritze vom Bund. Ein Gang durch den Hades des Hauses

„Es hat geschwankt und gab extreme Situationen mit Schauspielern“

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Es ist nicht lange her, da machte die Staatsoper Unter den Linden nur Schlagzeilen im Feuilleton. Daniel Barenboims Beethoven-Zyklus, Harry Kupfers Wagner-Inszenierungen oder die Choreografien von Vladimir Malakhov waren immer gut für einen Aufmacher der Blätter. Heute bestimmt die Staatsoper hauptsächlich als ökonomische Größe die Wirtschafts- oder Politikressorts der Gazetten, obwohl das Haus mit seinen rund 90 Prozent Sitzauslastung und künstlerischen Höchstleitungen auf Platz eins unter den Berliner Opernhäusern rangiert. Was sind schon Barenboims Staatskapelle mit ihren Sinfoniekonzerten oder Wagners „Tristan“ mit dem Bühnenbild von Herzog & de Meuron gegen den brüllenden Skandal, dass das Opernhaus fast zusammenfällt und es an Geld mangelt, es zu sanieren! „Marode“, „gefährlich“, „dreckig“, „kaputt“ und „rund 150 Millionen Euro Investitionsbedarf“ lauten derzeit die Attribute für Berlins prächtigstes Opernhaus.

„So sieht das aus, wenn seit 50 Jahren eine Mangelsituation und immer Betrieb herrscht“, sagt Klaus Wichmann. Den Technischen Direktor der Staatsoper haut so leicht nichts um. Der korpulente gelernte Tischler, der schon andere Theaterhäuser gesehen hat und sich wegen ein paar loser Kabel niemals den Schlaf rauben lassen würde, kennt die Staatsoper – vor allem ihre Schäden – in- und auswendig. Wichmann führt durch den unterirdischen Gang vom Intendantenhaus hinüber zu den Gewölben der Staatsoper. Dort hat Wasser die Wände in einen Schwamm verwandelt. Überall drückt es aus den Fundamenten die Feuchtigkeit herein. Löcher überziehen den Boden, dass man Gefahr läuft zu stolpern.

Wichmann hat dafür – wie auch für die abgeplatzte Fassade, die aufgerissenen Rohrleitungen in den Fluren der Oper, die Regenwasserflecken am Himmel des Apollosaals und an der Decke des 1.350 Plätze großen Zuschauerraums – nur ein Schulterzucken übrig. Das ist noch gar nichts, will er damit sagen.

Die Staatsoper ist ein dramatischer Sanierungsfall, 150 Millionen Euro, schätzen Experten, kostet die komplette Renovierung des Opernhauses, des Intendantengebäudes und des Magazins. Die zahlreichen Um- und Wiederaufbauten im 19. und 20. Jahrhundert und die letzte Renovierung zu DDR-Zeiten 1986 der einst Königlichen Oper mit dem Säulenportal aus dem 18. Jahrhundert haben eine brüchige Baucollage hinterlassen, die grundsaniert werden muss.

Wichmann führt in den Hydraulikkeller in 11 Meter Tiefe, direkt unter der Bühne. Die Hydraulik samt korrodierten Bühnenzügen, die zum Teil noch von 1928 stammt, ist so marode, dass die Hebebühne nicht mehr für Aufführungen eingesetzt werden darf. Wichmanns Hände zeichnen Hochseewellen in die Luft: „So hat es geschwankt. Es hat zu extreme Situationen mit Schauspielern gegeben. Die Podien werden seither nur für Transporte eingesetzt, szenisch können wir sie nicht mehr nutzen.“ Seit die Hebebühnen geschwankt hätten, stünden sie still, fährt er fort. Absenkungen von der 20 mal 20 Meter großen Bühne in den Hades der Oper finden seither nicht mehr statt, Regisseure müssen sich für Abgänge hinunter etwas anderes einfallen lassen.

Wichmann lässt andere „Havarien“ der letzten Zeit bei seinem Rundgang Revue passieren. „Das Bühnenportal lässt sich ebenfalls nicht mehr heben.“ Auch oben, über der Bühne, hakt es. Weil die Maschinerie ausgefallen war, funktionierte die Beleuchterbrücke nicht mehr einwandfrei. Schlimm kam es einmal, als Scheinwerfer abstürzten und zudem noch das szenische Licht ausfiel. Ob die Türme, die den 25 Meter hohen Schnürboden tragen, brüchig sind, kann man nur ahnen, orakelt Wichmann.

Sicher ist, dass der Betrieb des Magazins wegen technischer Schwierigkeiten große Probleme macht und die Bausubstanz in den Dächern sich verschlechtert, wegen Wassereinbrüchen, herabfallender Deckenteile und elektrischer Leitungen, die in einem modernen Haus aufgrund der Brandschutzrichtlinien so nicht herumliegen dürften. Wichmann lächelt: „Das Haus wäre längst vom Arbeitsschutz geschlossen worden, hätte es nicht die Betriebserlaubnis von 1956.“ Damals war die Staatsoper nach den Kriegszerstörungen von dem Ostberliner Architekten Richard Paulick restauriert und wiedereröffnet worden. Und der Technische Chef – der zugibt, dass er wegen der Gefahren immer mit einem Bein im Gefängnis steht, fügt hinzu: „Es ist ein Wunder, dass noch niemand zu Schaden gekommen ist.“ Es wird wohl viel auf Holz geklopft in der Staatsoper.

Zu den Havarien zählt auch, dass die Oper wegen der Brüchigkeit des Hauses und der technischen Mängel Inszenierungen auf Eis legen und insgesamt sechs andere vom Spielplan nehmen musste. Es sei eine fast „unzumutbare“ Situation für Künstler, beschreibt Wichmann die fast unwirklichen Realitäten in der Staatsoper. Dass dennoch geprobt, gespielt und immer wieder neu geprobt und gespielt wird, dafür braucht man Theaterblut.

Die Sanierung umfasst nicht nur die komplette bauliche und technische Substanz des Opernhauses mit Bühne, Unter- und größerer Hinterbühne, den Räumen für das Ensemble, dem Zuschauersaal, den Foyers, Garderoben und Restaurants. Notwendig sind auch der Anschluss des Magazins hinter der Oper und ein neuer Probensaal.

Mit 36 Monaten Dauer rechnet die Opernleitung für die Arbeiten, wenn sie nur schon begonnen hätten: Zwar hat die Bauverwaltung eine halbe Million Euro vom privaten Förderverein für Gutachten erhalten. Doch seit das Land Berlin die Zusage, 50 Millionen Euro für den Bau auszugeben, vor zwei Wochen zurückgenommen hat, steht die Finanzierung – 50 Millionen jeweils vom Bund und Berlin und 30 Millionen vom Verein der Freunde und Förderer der Staatsoper – auf wackligeren Füßen denn je.

„Für das Haus zählt jeder Monat“, schlägt Intendant Peter Mussbach Alarm. „Wenn Berlin nicht mehr bezahlt, ist die Staatsoper so gefährdet, dass die Schließung droht. Die Finanzierung und Sanierung müssen sein. Zwischen dem Land und dem Bund muss eine Lösung gefunden werden.“

Mussbach und sein technisches und künstlerisches Team haben dem Senat nicht nur das nötige Umbauprogramm angetragen und Finanzierungsmodelle vorgerechnet, er hat auch satte Geldquellen vorzuweisen. Der Unternehmer und Opernfan Peter Dussmann ist mit seinem Förderverein die dickste Säule der privaten Finanzierung. 30 Millionen Euro ist der Förderverein zu spendieren bereit, wenn die Investitionen von Bund und Land stehen. Umso weniger kann Dussmann jetzt nachvollziehen, dass der Regierende Bürgermeister einen Rückzieher macht und „sein Wort bricht“. Wowereit habe zugesichert, Berlin werde seinen Beitrag leisten, ärgert sich Dussmann.

Doch Wowereit mauert angesichts leerer Haushaltskassen. Die Oper, argumentiert er, müsse vom Bund in Trägerschaft übernommen werden. Das Haus führe den Titel „Staatsoper“ und sei keine Stadtoper. Erst nach dem Fall der Mauer sei das Haus von nationaler Bedeutung zur Landesinstitution avanciert – eine Fehlentscheidung, meint Wowereit – wie übrigens viele andere in Berlin. Doch Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) lehnt bislang ab, die Einrichtung zu übernehmen. Der Bund benötige kein Opernhaus, sagt Neumann. Außerdem habe dieser in Berlin schon viel Geld in die Kultur investiert.

Auch Wichmann plädiert für die große Lösung: die Finanzierung durch den Bund. Oben, in seinem Büro, ist er von großen Lösungen umgeben: einem riesigen Bauwerk, gigantischen Organigrammen, großer Kunst und Geschichte und einem dicken Gipsbronzekopf von DDR-Staatsgründer Wilhelm Pieck. Der steht auf Wichmanns Schrank. Der Technische Direktor hat ihn irgendwo mitgehen lassen. Wichmann sagt: „Wenn wir große Opern zeigen wollen, gebe ich dem Haus noch drei Jahre.“ Gips-Pieck blickt finster herunter.