Führung für Blinde: Sehenswürdigkeiten fühlen
Im Modellpark Wuhlheide können Sehbehinderte einmal im Monat besondere Bauten Berlins und Brandenburgs ertasten. Morgen findet wieder eine Führung statt.
Mit ihren Fingern fährt Brigitte Hoffmann vorsichtig über die kleinen Dachziegel aus Hart-PVC, über Fensterbögen und Türmchen. Um die Spitze des Modells des Rathauses Lichtenberg zu erreichen, muss sie sich auf die Zehenspitzen stellen. "Früher habe ich im Rathaus gearbeitet", berichtet die 68-Jährige, "aber ich habe nie gewusst, wie das Gebäude im Ganzen aussieht." Die Rentnerin ist von Geburt an blind. Zusammen mit neun weiteren sehbehinderten Besuchern nimmt sie an diesem Nachmittag an einer Sonderführung im Modellpark Wuhlheide teil. Jeden letzten Mittwoch im Monat ermöglicht es der Park und der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein (ABSV) Berlin blinden Teilnehmern, Sehenswürdigkeiten der Stadt und aus Brandenburg durch Abtasten kennenzulernen.
Eigentlich ist das streng verboten. Auf Hinweisschildern heißt es im Modellpark: "Bitte nur mit den Augen berühren." Doch bei diesen Führungen fordert Fremdenführer Jörg Seifert die Besucher immer wieder auf, näher an die Modelle heranzutreten, um Material und Struktur der Nachbauten zu ertasten. "Bei einer richtigen Stadtführung haben wir ja nur die Erklärungen der Sehenden", freut sich Walter Hoffmann; auch er ist sehbehindert. Hier könne er ein Gefühl für Flächen und Dimensionen entwickeln, so der 67-Jährige.
Alle Bauwerke sind im Maßstab 1:25 nachgestellt - damit ist der Reichstag in der Wuhlheide immerhin rund sechs Meter lang. Nur fünf Schritte trennen ihn vom Brandenburger Tor, 20 sind es hingegen bis zum Staatstheater Cottbus, aus dessen Innerem noch das Abschlusscrescendo und Applaus zu hören sind. Die Modelleisenbahn im Spreewald reagiert unterdessen auf den Bewegungsmelder und schleppt sich mühsam durch die Landschaft - ihre Batterien sind fast leer.
Während sich eine Besucherin sogar ins Gras kniet, um das Modell Schloss Reichenow besser mit beiden Händen erreichen zu können, liefert Reiseführer Seifert Informationen zur Geschichte des in der Nähe von Strausberg stehenden Originals. "Wir möchten mit dem Modellpark einen Überblick über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Region geben und gleichzeitig dazu einladen, die Originalbauten zu besuchen", so Seifert.
Burkhard Sanftleben ist von den kleinteiligen Modellen beeindruckt; sie helfen ihm, Größenrelationen besser einzuschätzen. Seit zehn Jahren ist der 66-Jährige stark sehbehindert, er kann nur hell und dunkel unterscheiden. "Die Gedächtniskirche am Breitscheidplatz habe ich 1.000-mal gesehen", berichtet der Berliner. Doch dass ihr einer der seitlichen Türme fehlt, hat er über die Jahre vergessen - erst am Modell wird ihm die Zerstörung wieder bewusst. "Ein blinder oder sehbehinderter Mensch kann Größen nur so weit wahrnehmen, wie seine Arme reichen", erklärt Sanftleben. "Blinde leben daher in einer ganz anderen Welt: Sie können nur sehen, was sie fühlen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!