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Archiv-Artikel

Führer ohne Dogma

Sechzig Jahre war er Revolutionär, 47 Jahre lang herrschte er über Kuba. Am kommenden Sonntag wird der schwerkranke Fidel Castro achtzig. Fast schon ein Nachruf

Von TONI KEPPELER

Fidel Castro ist alt geworden; seine Stimme brüchig, die Gestik zittrig. Der einst gerühmte Redefluss wurde im Lauf der Jahre stockender. Seine Gedanken verhedderten sich mehr und mehr in der Erinnerung an weit Zurückliegendes. Was er eigentlich sagen wollte, vergaß er darüber immer öfter. Senil wirkte er trotzdem nicht. Eher wie ein etwas zerstreuter Großvater mit reichem Erfahrungsschatz, der viel zu erzählen hat und das auch gerne tut.

Lange hat er so getan, als könne die Zeit ihm nichts anhaben. Selbst als die Gemeinde der Exilkubaner in Miami begann, mehr auf eine biologische Lösung des Problems Castro zu hoffen als auf ein Ende seiner Herrschaft durch gewaltsamen Umsturz, hielt er trotzig immer längere Reden; fünf, sechs, sieben Stunden lang. Bis zum 23. Juni vor fünf Jahren. Da brach er nach zwei Stunden Wortschwall in Cotorro bei Havanna unter der glühenden Sonne zusammen. Fünfzehn Minuten lang dachten 60.000 Zuhörer vor Ort und Millionen an den Fernsehschirmen, dass nun alles vorbei sei. Außenminister Felipe Pérez Roque hatte bereits mit einem „Viva Raúl!“ Fidels fünf Jahre jüngeren Bruder zum Nachfolger proklamiert. Da öffnete der Alte die Augen, winkte von der Bahre und rief dem Publikum zu: „Macht euch keine Sorgen! Mir geht es gut! Die Rede wird heute Abend im Fernsehen fortgesetzt!“ Und so ist es dann auch geschehen.

Vor zwei Jahren stürzte Castro nach einer Rede von der Bühne und zog sich einen komplizierten Beinbruch zu. Drei Stunden und 15 Minuten lang wurde er operiert – ohne Narkose und ohne Schmerzmittel. Der Máximo Líder wollte selbst unterm Messer bei vollem Bewusstsein weiterregieren. So sehr klammert er sich an die Macht. Am Abend des vergangenen Montags musste er sie – „vorübergehend“, wie es hieß – trotzdem an den kleinen Bruder übergeben. Akute Magen-Darm-Blutungen erzwangen eine Notoperation. Fidel Castro ist schwach geworden. Wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag am 13. August ist klar: Es geht auf das Ende zu. Was in diesen Tagen über den Jubilar geschrieben wird, kann fast schon als Nachruf gelten. Viel wird dem nicht mehr hinzuzufügen sein.

Bald sechzig Jahre ist Castro in revolutionäre Umtriebe verwickelt: Bereits als Studentenführer nahm er 1947 an einer Expedition in die Dominikanische Republik teil, um den dortigen Diktator Leónidas Trujillo zu stürzen. Das Unternehmen scheiterte kläglich. Genauso wie der Sturm auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba am 26. Juli 1953, der der Auftakt sein sollte zum Sturz des kubanischen Diktators Fulgencio Batista. Castros Verteidigungsrede im Prozess schloss mit dem berühmt gewordenen Satz: „Die Geschichte wird mich freisprechen.“ Doch bevor die Geschichte zum Zug kam, wurde er vom Regime amnestiert. Er ging ins Exil und kam 1956 heimlich mit dem Boot „Granma“ zurück, um in der Sierra Maestra den Guerillakampf aufzunehmen.

Seit dem 1. Januar 1959 herrscht Castro über Kuba. Genügend Zeit eigentlich, um zu wissen, wer dieser Mann ist. Und doch bleibt das meiste, was über ihn geschrieben wird, an der Oberfläche. Seine Biografien sind keine Charakterstudien, sondern meist nur Abhandlungen über die jüngere Geschichte Kubas. Denn Castro hat nie öffentlich über sich selbst geredet und nur eine Reihe von Frauen und ganz wenige Freunde nahe an sich herangelassen. Über sein privates Leben gibt es ein paar spärliche Daten, wenige Hinweise und vor allem viele Legenden. Sein Freund Gabriel García Márquez sagte über ihn, er schütze „seine Intimität mit so großer Schamhaftigkeit, dass sein Privatleben zum hermetischsten Rätsel seiner Legende geworden ist“.

Nicht einmal der Anfang steht mit Sicherheit fest. Seit Castros Geburtstag im Jahr 2001 staatlicherseits als der 75. gefeiert wurde, wird der 13. August 1926 als offizielles Datum genannt. Ein paar Biografen dagegen behaupten, sein Vater habe ihn bei der Anmeldung in der Schule um ein Jahr älter gemacht. Wurde Fidel 1926 geboren, so zog in der Nacht seiner Geburt ein Wirbelsturm über den Osten Kubas, der so schrecklich war, dass in den Tagen danach die Kadaver von Pferden und die Leichen von Menschen gemeinsam in schlammigen Massengräbern beigesetzt wurden, weil man anders der schieren Menge nicht Herr zu werden wusste. Auch auf der Zuckerrohr-Hazienda seines Vaters im Weiler Birán in der heutigen Provinz Holguín war großer Schaden entstanden.

Vater Angel, ein armer galizischer Einwanderer, der es mit viel Arbeit und wohl auch mit ein paar krummen Geschäften zu einem respektablen Vermögen gebracht hatte, wird als herrischer, im Grunde aber wohltätiger Patron beschrieben. Fidels Mutter Lina Ruz war Haushälterin im Hause Castro. Erst 1947, als Angels erste Frau gestorben war, wurde die Beziehung legalisiert. Da hatte die Magd ihrem Herrn bereits sieben Kinder geboren. Mit der ersten Frau hatte er zwei weitere.

Lina Ruz muss eine zupackende Person gewesen sein. Als 1961 – Angel war bereits gestorben – die Kommissare der Landreform auf die Hazienda in Birán kamen, um drei Viertel des Bodens zu enteignen, soll sie mit der Winchester im Anschlag hinter dem Fenster gelegen und Fidels Abgesandten erst einmal ein Feuergefecht geliefert haben. Es nützte nichts. Sie wurde enteignet. Mit Fidel hat sie sich bis zu ihrem Tod nicht versöhnt. Auch für den Vater fand der Sohn keine guten Worte: Er soll ihn als Ausbeuter beschimpft haben.

Sosehr sich Fidel von den Eltern distanzierte, so wenig kann er verleugnen, ihr Sohn zu sein. Wie der Vater ist er ein autoritärer und zugleich wohltätiger Patriarch; ein Macho, der von mindestens vier Frauen mindestens acht Kinder hat. Wie Vater Angel hat auch Fidel durchaus großbürgerliche Vorlieben: Bisweilen gefiel es dem Revolutionär, sich mit Gesellschaftsdamen aus der Oberschicht zu schmücken. Und er ist zupackend wie seine Mutter. 1961, als in der Schweinebucht ein von den USA ausgerüstetes Söldnerkommando landete, um ihn zu stürzen, setzte er sich, damals noch mit wildem, schwarzem Haar und dicker Hornbrille, höchstselbst auf den ersten Panzer, um die Invasoren niederzuringen.

Vielleicht distanzierte er sich so sehr von seinen Eltern, weil er sich von ihnen zurückgestoßen fühlte. Sie schickten ihn früh weg von zu Hause, ins Internat, um ihn von Jesuiten erziehen zu lassen. Zuerst nach Santiago, dann nach Havanna. Castro kämpfte sich allein durch. So wie es ihm in den katholischen Erziehungsanstalten beigebracht wurde: mit eiserner Disziplin und Härte gegen sich selbst. Bis heute kann er nicht richtig locker sein, immer wirkt er irgendwie steif. Selbst das öffentliche Reden koste ihn Überwindung, sagt García Márquez: „Er beginnt stets mit kaum hörbarer, tatsächlich stockender Stimme, tastet sich mit ungewissem Ziel im Nebel voran.“ Aber hat er sich erst mal warmgeredet, hört er lange nicht mehr auf.

Zur Selbstverleugnung und Disziplin kommt die Askese. Wer Castro vorwirft, er nutze seine Macht, um sich zu bereichern, macht sich lächerlich. Nicht einmal richtig essen tut er. Wegen seines Hangs zur Fettleibigkeit treibt er zeitlebens Sport und erlegt sich eine strenge Diät auf. Würde er nicht die Frauen lieben, er hätte das Zeug zum Mönch. Auch sein apokalyptischer Manichäismus hat etwas sehr Katholisches. Castro will alles oder nichts, patria o muerte, heiß oder kalt. Die Lauen aber spuckt er aus (Apokalypse 3,16). Er hat immer alles auf eine Karte gesetzt.

Beim Sturm auf die Moncada-Kaserne; beim Guerillakampf der Zwölf, die die Landung der „Granma“ überlebten; bei der Kubakrise im Oktober 1962, als die Sowjetunion Mittelstreckenraketen auf der Insel stationierte und die USA mit einer Seeblockade antworteten. Damals war er bereit, Kuba im Höllenfeuer verbrennen zu lassen. Er befürwortete einen atomaren Erstschlag der Sowjetunion gegen die USA, wohl wissend, wie schrecklich die Antwort ausfallen würde. Doch John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow einigten sich hinter seinem Rücken. Castro war nicht etwa erleichtert über den glimpflichen Ausgang der Affäre. Im Gegenteil. Er fühlte sich von den beiden Lauen gelinkt.

Was aber treibt ihn, was macht ihn heiß? Die Utopie vom Sozialismus? Gewiss nicht. Auch nach 1959 hat er es noch weit von sich gewiesen, ein Kommunist zu sein. Er suchte zunächst die Annäherung an die USA. Aber die stießen ihn nicht nur zurück, sondern trieben ihn gezielt in die Arme Moskaus. Nach inzwischen offengelegten Papieren des US-Geheimdienstes CIA wollte Kuba 1959 in Großbritannien für seine Armee Kampfflugzeuge kaufen. Der damalige CIA-Direktor Allan Dulles intervenierte in London: Man solle Castro den Wunsch abschlagen, damit dieser gezwungen sei, in der Sowjetunion MiGs zu kaufen. Das wiederum könne den USA als Vorwand zum Eingreifen dienen. Schließlich seien MiGs auf Kuba ein deutlicher Beweis dafür, dass der Kommunismus dort Urständ feiere.

Castro war nie ein so moskautreuer Knappe, wie ihn die Regierung in Washington gerne gehabt hätte. Zwar nannte er 1965 seine Regierungspartei in „Kommunistische Partei Kubas“ um, rechtfertigte 1968 den Einmarsch der Sowjets in die Tschechoslowakei und baute einen Geheimdienst nach dem Vorbild des KGB auf. Aber er kritisierte den Kreml auch heftig. Zentraler Streitpunkt war das Verhältnis zu den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen. Castro unterstützte die linken Guerilleros. Moskau dagegen gab sich legalistisch und setzte auf linientreue kommunistische Parteien ohne Massenbasis. Doch der Dissens ging nie so weit, dass die Sowjetunion Kuba die wirtschaftliche Hilfe entzogen hätte. Kuba, nur 90 Meilen von den USA entfernt, hatte einen viel zu hohen Symbolwert. Der Pfahl im Fleisch des Feindes musste steckenbleiben. Ebendeshalb wurden Castro und sein Regime nach dem Zusammenbruch des Ostblocks von westlichen Journalisten in fast schon kollektiver Hysterie in den Orkus der Geschichte geschrieben.

Die Prophezeiungen hatten eine handfeste Basis: Als die Sowjetunion verschwand, brachen 85 Prozent der Märkte Kubas einfach weg. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte innerhalb von zwei Jahren um 35 Prozent. Selbst das Gesundheitswesen, einst Stolz der Revolution, funktioniert seither nicht mehr richtig. Wäre Castro der orthodoxe Kommunist, als der er gerne karikiert wird, hätte er diese Zeit nicht überlebt. In jedem anderen Land wäre es zum Volksaufstand gekommen. In Kuba gab es nur einen Tag Randale in Havanna. Denn der Alte reagierte äußerst flexibel.

Vor der Krise durfte kaum ein Kubaner das Land verlassen. Jetzt durften sie sich zu tausenden auf seeuntüchtigen Flößen ins Meer werfen. Castro genehmigte freie Bauernmärkte, Arbeit auf eigene Rechnung, legalisierte gar den US-Dollar als Zahlungsmittel. Er ließ Hotels für massenhaft anreisende Touristen bauen, und wenn sich in diesen Hotels junge Kubanerinnen für Geld an ältere Männer schmiegten, drückte man ein Auge zu. Denn Fidel Castro ist kein Dogmatiker. García Márquez nennt ihn einen „Antidogmatiker par excellence“. Die Biografin Claudia Furiati sagt treffend: „Er ist ein Pragmatiker. Das Reflektieren hat er Che Guevara überlassen.“ Che aber ist längst tot.

In den vergangenen Jahren hat Castro wieder den Hardliner hervorgeholt. Die vorsichtig geöffnete Tür zum Kapitalismus wurde geschlossen, die Staatspartei gesäubert, Dissidenten wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Denn Kuba geht es wieder besser. Es bezieht sein Öl zum Vorzugspreis aus Venezuela und bezahlt nicht mehr, wie bei den Sowjets, mit Zucker, sondern mit Ärzten und Lehrern. In Caracas ist ein Mann am Ruder, der wie Castro als Linker verteufelt wird. Tatsächlich sind Castro und Hugo Chávez Brüder im Geiste. Doch es ist nicht Karl Marx, der die beiden verbindet. In Castros Reden findet sich kein einziges Zitat des sozialistischen Klassikers. Aber sehr viele von José Martí, dem kubanischen Freiheitshelden des 19. Jahrhunderts. Chávez wiederum trägt ständig Simón Bolivar vor sich her, den Säulenheiligen der südamerikanischen Unabhängigkeit. Es ist der sich auf die Unabhängigkeitskriege beziehende Nationalismus, der die beiden eint.

Das ist es, was Castro treibt: Er sieht sich als Nachfahre von José Martí und will dessen unerledigte Aufgabe zu Ende bringen. Martí kämpfte gegen die Spanier. Als die gingen, kamen die US-Amerikaner, und die bekämpft Castro bis heute. Seine Lebensaufgabe ist ein souveränes, unabhängiges Kuba. Keines, das unter der Fuchtel Washingtons steht, und auch keines, das von internationalen Finanzströmen abhängig ist. Um dies zu erreichen, ist ihm jedes Mittel recht. Und wenn es kein Mittel mehr gibt, dann lieber den Tod. Die Kubakrise zeigte es. Ideologien spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Gut ist, was einem unabhängigen Kuba nützt.

Weil die wenigsten westlichen Politiker und Kommentatoren diesen eigentlichen Kern Castros verstanden haben, konnte er sie immer wieder überraschen. Und er könnte sie noch einmal überraschen: Wenn er nach seinem 80. Geburtstag und schwerer Krankheit nicht mehr zurückkommen, sondern nach 47 Jahren endgültig von allen seinen Ämtern zurücktreten und die Rolle eines Elder Statesman übernehmen würde. Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Aber gut wäre es – weil es Kuba nützte.

TONI KEPPELER ist ziemlich genau 30 Jahre jünger als Fidel Castro und als Mitarbeiter der Reportage-Agentur Zeitenspiegel viel in Lateinamerika unterwegs. Von 1994 bis 2001 war er taz-Korrespondent für Mittelamerika und die Karibik