berliner szenen: Frühlingserwachen
Joggen und joggen
Als ich von der ruhigen Seitenstraße zum Seeufer hinunterlaufe, sehe ich ihn: Er steigt zum Pinkeln nicht mal vom Fahrrad ab. Das linke Bein ruht auf dem Pedal, mit dem rechten stützt er sich und das Fahrrad ab. Der Mann hat seine ausgebeulte Trainingshose einfach ein Stück heruntergezogen und pisst. Ich beschleunige meinen Schritt – es ist ein milder Frühlingsvormittag, ich bin die einzige Joggerin weit und breit. Unangenehm ist mir die Vorstellung doch, mit einem merkwürdigen Mann in Jogginghosen allein im Wald zu sein. Wenig später überholt er mich mit seinem Fahrrad und fährt genau meine übliche Laufstrecke am Ufer entlang. Nicht gut.
Hundert Meter weiter lösen sich meine Sorgen auf. Der Mann winkt freudig jemandem zu: Aus dem Schatten der hellgrün bespitzten Weiden tritt eine Frau. Ihre dunklen Haare glänzen, der Mund ist rot geschminkt. Die beiden umarmen sich hastig, nehmen sich bei den Händen und laufen zielstrebig zum See. Ich biege nach links ab, laufe heute mal eine große Schleife auf Trampelpfaden durch den Wald. Am See ist der Weg zu nass, ich habe keine Lust auf den Matsch. Wäre ich mit dem Mann allein gewesen – ich wäre auf dem belebteren Uferweg geblieben.
Ich laufe. Mir ist warm, mein Atem geht tief und regelmäßig. Ich sehe Wildspuren, weiche abgeknickten Zweigen aus, spüre die Sonne im Nacken. Laufe. Bald werde ich fertig sein mit meiner Runde. Vor mir, im noch kahlen Unterholz, liegt ein umgestürzter dicker Baumstamm, darauf hat sich etwas niedergelassen. Ich versuche zu erkennen, was es ist – ein Tier, ein Mensch? Es sind zwei Rücken, zwei Menschen, ineinander verschränkt, einer trägt eine Jogginghose. Ganz leise laufe ich vorbei. Es ist Frühling.
ANJA MAIER
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