Frühling in Bielefeld: Die Blätter fallen

Das neue Law-and-order-Bündnis im Rat der Stadt erledigt per Federstrich die bundesweit älteste kulturpolitische Jugendzeitung und rächt sich für vierzig Jahre Aufmüpfigkeit / Die „Veroetkerung der Kommunalpolitik“ schreitet voran  ■  Aus Bielefeld B.Markmeyer

Die Rache kam spät. Und sie war billig. Eine Streichung von 50.000 Mark im städtischen Etat genügte, um die 'Bielefelder Blätter‘, die bundesweit älteste kulturpolitische Jugendzeitung, zu erledigen. Das seit den Kommunalwahlen im Herbst regierende Law-and-Order-Bündnis von CDU, FDP und der mit der Fabrikanten-Gattin Maja Oetker operierenden „Bürgergemeinschaft für Bielefeld“ versetzte dem Magazin den Schlag, für den die Konservativen in der Puddingstadt schon vor 30 Jahren die Fäuste geballt hatten. Doch stets hatten SPD-Mehrheiten, zuletzt gemeinsam mit der grün-nahen Bunten Liste, die Gelder für die Jugendzeitschrift bewilligt. Dank der rapiden „Veroetkerung der Kommunalpolitik“ ('Blätter‘) ereilte das Jugendblatt nun ein Schicksal, das es mit etlichen Projekten der unter rot-grüner Verwaltung aufgeblühten alternativen Kultur- und Jugendszene in Bielefeld teilt: Die neue Mehrheit räumt auf.

1950 als Begleitzeitung für die Veranstaltungen des Jugend -Kulturrings gegründet und herausgegeben vom Jugendring, mauserten sich die monatlich erscheinenden DIN-A-5-Heftchen in den 60er und 70er Jahren zum Forum für Freigeister. AutorInnen waren die oft Jugendlichen selbst. Sie machten die 'Blätter‘ zu Bielefelds APO- und Nach-APO-Zeitung. Von dieser, ihrer Glanzzeit, in der sie „nächtens gesessen und an Argumenten gebastelt haben“, träumen die in Ämtern ergrauten MacherInnen von einst noch heute. Paul Hirschauer, längst Leiter des Jugendamts, der als „junger Spucht“ und 'Blätter'-Redakteur selbst die Lokalgrößen aufs Korn genommen hat: „Die 'Blätter‘ waren immer ein Ärgernis. Und Ärgernisse sind gut und schön.“

Doch der Bielefelder Jugendring hatte keine Wahl. 50.000 DM, um die er seinen Etat gekürzt sah, bedeuteten das Aus für sein mit 33.000 DM jährlich bezuschußtes Magazin. Ein „Kaleidoskop“ der Nachkriegsgeschichte, so der ehemalige Redaktionsleiter und heutige Pfarrer in Bottrop, Michael Schibilsky, sorgten die 'Blätter‘ immer wieder für hitzige Debatten im Rat der Stadt, Schlammschlachten in der heimischen Presse und für Gerichtsverhandlungen. Zum ersten großen Krach führte 1959 eine antimilitaristische Karikatur. Zu einem Artikel über die Machenschaften der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Waffen -SS“ (HIAG) stakste ein General als monokelbewehrter, ordenbehängter Gockel durch ein Gräberfeld. Soldatenverbände und Alt-Nazi-Kameradschaften jaulten auf und bekamen im 'Westfalen-Blatt‘ reichlich Platz und Gelegenheit, „gegen die Verunglimpfung des Soldatentums“ zu protestieren. Fortan hetzte die Westfalen-Postille, der Bielefelder Bayernkurier, wann immer sich Gelegenheit bot, gegen „das von unser aller Steuergroschen bezahlte, linke Kampfblatt“ und dessen UnterstützerInnen bei SPD und Jugendring.

Schlagzeilen machten die 'Blätter‘, die in 4.000er Auflage allen Mitgliedern des Bielefelder Jugendrings zugestellt wurden, auch über die Grenzen der Stadt hinaus. 'Zeit' -Redakteurin Nina Grunenberg notierte 1965 über eine der unzähligen Ratsdebatten zum Thema 'Blätter‘ und städtische Zuschüsse: „ein Mitgliedertreffen für moralische Aufrüstung“ und zitierte den Säuberungsaufruf eines prominenten CDU -Ratsherrn: „Befreien Sie uns von dem Schmutzfleck dieser 'Blätter‘ auf Bielefelds weißer Weste.“ Die aufmüpfigen Jung -RedakteurInnen hatten es gewagt, der Jugend aufs Maul zu schauen, und deren Meinung über Jazz, Sex und Camus tonbandgetreu verewigt. Auch die heißen Eisen der 70er Jahre wie Kriegsdienstverweigerer, Wohngemeinschaften, „Gammler“, Polizeiwillkür, die Gewaltdebatte oder Sexualität, die die als „Nestbeschmutzer“ beschimpften 'Blätter‘ anpackten, waren nicht gerade dazu angetan, die konservativen Stadtväter Bielefelds zu besänftigen.

Eine junge Redaktion änderte in den 80er Jahren das Konzept. Sie wandte sich vor allem an die 14- bis 18jährigen. Ihr Ziel war es, die Jugendlichen selbst zum Schreiben zu bringen. Viele Ausgaben entstanden in Schulen und Jugendzentren. Die Themen änderten sich, der Ärger blieb: wegen Verunglimpfung der Kirche, Berichten aus der Punk-Szene oder einer Ausgabe über Aids mit eingeklebtem Kondom. Noch 1986 stand die Bielefelder Erwachsenenwelt kopf, weil auf einem 'Blätter'-Poster unter der Überschrift „Frohe Ostern“ eine freundliche Mittdreißigerin zu sehen war, die einem knackigen Jüngling in die offene Jeans blickte.

Erst in den letzten Jahren büßten die 'Blätter‘ ihren einstigen Biß ein. Inzwischen auf DIN-A-4-Format und nur noch zweimonatlich erscheinend, wandten sie sich nur noch selten strittigen Themen zu. Ihre lokale Bedeutung nahm ab. Eine Alternative zu 'Bravo‘ blieben sie gleichwohl, und just vor ihrer Einstellung hatten Redaktion und die jugendlichen AutorInnen beschlossen, ihrem Blatt wieder mehr politischen Drive zu verpassen. Heiko Schäfer, einer der Autoren: „Dieser Zukunft traure ich hinterher. Ich hätte gewettet, daß sie in einem Jahr in Bielefeld wieder beachtet worden wären.“ Keine Frage, denn die Konflikte liegen in Bielefeld neuerdings wieder auf der Straße. Und eine Zukunft ganz im Sinne des seligen Oberbürgermeisters Arthur Ladebeck noch dazu, der 1950 den frisch gegründeten 'Blättern‘ folgendes Geleitwort mitgab: „Das reiche Kulturleben unserer Stadt ist ohne eine geistig lebendige Jugend nicht denkbar.“

Heute haben in Bielefeld Alt-Herren-Riegen und die Pudding -Königin das Sagen. Und die brauchen die Jugend nicht, um zu wissen, was für die Jugend gut ist - sondern höchstens, um sich an ihr zu rächen.