: Frühling im Dezember
Sie sind im fortgeschrittenen Rentenalter – und alle haben sie plötzlich neue, frische Platten: Henri Salvador, Charles Aznavour, Georges Moustaki und die großartige Juliette Gréco
von REINHARD KRAUSE
Da sitzt man im Dunkel der Berliner Philharmonie, Notizblock auf den Knien, und erwischt sich plötzlich bei dem Gedanken: Ob die das wohl im Wohnzimmer übt? Die Hände vor den Bauch, einen Fuß leicht schräg stellen für den besseren Halt, mit dem anderen Fuß einen Schritt nach hinten machen. Und dann ganz langsam den Kopf beugen und gleichzeitig die Knie. So weit, bis es in den Bauchmuskeln kribbelt und der Gleichgewichtssinn leise „Hilfe!“ fleht. Und dann genauso langsam wieder hoch. Ha! Und kaum ein bisschen wackeln dabei. Ach ja, und das Ganze dann auch noch auf schicken hochhackigen Pumps. Mit 76 Jahren. Erst die Demutsgeste mit dem geneigten Haupt, den gebeugten Knien – und dann der Triumph, ohne jede Hilfe aus dieser misslichen Position wieder hochzukommen. Das Publikum im Saal ist entzückt, verlässlich.
Juliette Gréco kann noch ganz andere Dinge als nur diese vollendete Verbeugung. Zum Beispiel hundert Minuten nonstop in diesen Pumps auf der Bühne stehen, ohne sich auch nur kurz an einem Flügel, einem Pult oder Dirigenten festzukrallen. Ohne in dieser Zeit auch nur einen Tropfen Mineralwasser zu sich zu nehmen. Oder „Deshabillez-moi“ (Ziehen Sie mich aus) singen, ohne dass man aus dem Saal fliehen möchte.
Sie kann aber auch im sechsten Jahrzehnt ihrer Karriere ein Album aufnehmen, das so wach, so intim und unverbraucht klingt, dass jegliche Ehrfurcht vor schlohweißem Haar (das sie ohnehin schwarz färbt …) sofort vergessen ist. Ein triumphales, unverhofftes Comeback.
Mit „Aimez-vous les uns les autres ou bien disparaissez“ (etwa „Liebt euch oder zieht bloß Leine“), findet sich Juliette Gréco unvermittelt an der Spitze einer Bewegung, die vor drei Jahren begann. Plötzlich sind sie alle wieder da, ganz ausgeschlafen und verblüffend frisch: die Granden des französischen Chansons.
Den Anfang machte Henri Salvador, damals 83 und für sein mäßig spaßiges Repertoire als kreolischer Chansonclown eher belächelt denn geliebt. Sein Album „Chambre avec vue“ (Zimmer mit Aussicht) war die Sensation des Jahres 2000, wurde als bestes Album des Jahres ausgezeichnet und verkaufte sich bis heute fast 2 Millionen mal. Salvador sang den Bossa und den Blues mit der Entspanntheit und Sparsamkeit eines Sängers, der im Leben rein gar nichts mehr beweisen muss. Größer als das Staunen über die Gnade seiner späten Fitness war nur noch die Irritation über Salvadors unfassbare Leichtigkeit. Alles an „Jardin d’hiver“ klang luftig, nicht ein Hauch war zu spüren von Gebrechlichkeit. Einzig eine gewisse sommerliche Melancholie umwehte das Album.
Hinter dem überraschenden späten Erfolg von Henri Salvador standen vor allem zwei Namen: Keren Ann und Benjamin Biolay (siehe auch taz.mag vom 13. September). Nacheinander, schrieb Salvador im Booklet zu „Chambre avec vue“, habe er ebenso enthusistische wie begabte junge Leute kennengelernt, die mit ihm ein Album produzieren wollten. Auf der Suche nach neuem Material sei man auf einen Titel von Keren Ann gestoßen. Vermutlich war dies „Jardin d’hiver“ (Wintergarten) von Keren Anns Debütalbum, das kurz zuvor erschienen war. Ein sanfter Bossa über das Altern und die unzerstörte, aber zunehmend melancholisch gefärbte Freude am Leben. Damit war nicht nur, wie Salvador im Booklet schreibt, der Ton für sein Album gefunden, sondern – wie sich heute, drei Jahre später, herausstellt – ein Trend lanciert. Warum im fortgeschrittenen Alter immer nur in Rückblenden vom Gefühlsleben singen? Und warum nicht im hohen Alter einmal allen Imageballast über Bord werfen und ein Album aufnehmen, als wäre es das allererste?
Unerwähnt ließ Salvador, dass Keren Ann dieses so einfühlsame Chanson über das Leben im Wintergarten des Lebens nicht allein geschrieben hatte. Für den Text zeichnete Benjamin Biolay verantwortlich, der über das konsequente Ignorieren seiner Autorenschaft so düpiert war, dass er für Salvadors aktuelles Album „Ma chère et tendre“ (Meine liebe Sanfte) kein neues Material beisteuern mochte. Die spannende Frage: Würde es Salvador mit fast gänzlich selbst geschriebenen Melodien gelingen, seinen drei Jahre zurückliegenden Scoop – ohne die Mitwirkung des mittlerweile zum neuen Chansonstar aufgestiegenen Biolay – zu wiederholen?
Naheliegenderweise kann Henri Salvador auf „Ma chère et tendre“ nicht noch ein weiteres Mal neu erfunden werden. Seine Stimme ist auch mit 86 noch so samten und alterslos wie mit 83, die Grundstimmung so entspannt wie auf „Chambre avec vue“, wenn auch ein wenig von Monotonie bedroht. Alles in allem aber fehlt das Zeug zum ganz großen Erfolg: Es gibt keinen Song, der es mit den Highlights des letzten Albums aufnehmen könnte. Eher handelt es sich hier um ein freundlich swingendes „Encore“, eine nette Dreingabe für das Mitternachtsprogramm.
Eine weitere lebende Legende, die man längst aus den Augen verloren hatte, ist Georges Moustaki. Er wird im nächsten Jahr zwar erst siebzig, hat aber im Gegensatz zu Salvador eine Stimme, der das Alter hörbar zugesetzt hat, wie man sich auf seinem neuen, schlicht „Moustaki“ betitelten Album überzeugen kann. Man muss dem Moustaki des Jahres 2003 schon einige Male zuhören, bis aus dem Urteil „Das geht ja gar nicht mehr“ ein „Das geht sogar sehr gut“ wird. Anders als Salvador hat Moustaki die Produktion seines Comebacks nicht in die Hände eines der jungen Talente der „nouvelle scène“ gelegt, sondern sein selbst geschriebenes Material Jean Charles Vannier anvertraut, einem erstklassigen Arrangeur, der bereits vor dreißig Jahren Gainsbourg zu einem avantgardistischen Sound verhalf und heute mal Luxusartikel produziert (Jane Birkin), mal Schlagerschmalz aufwertet (Pascal Obispo). Wenn ein Chanson durch höchst merkwürdige Streicherpassagen auffällt, kann man sicher sein: Das hat Vannier gemacht. Und siehe da, Moustaki, der bisweilen mit seinem müden Genussmenschgestus langweilte, hat plötzlich sehr viel Charme und auch Witz.
Die exzentrische Sängerin Brigitte Fontaine (Anfang sechzig und derzeit ohne neues Album) plauderte vor zwei Jahren in einem Interview über eine Begegnung mit ihrem alten Freund und Nachbarn Moustaki. Man habe bei einem Wein beisammen gesessen und Moustaki habe etwas schicksalsschwanger gesagt: „Ach ja, immerhin habe ich fünf, sechs Lieder geschrieben, die bleiben werden.“ Daraufhin habe sie gesagt: „Okay, Georges, sagen wir drei oder vier.“ Sollte ihn diese Provokation angestachelt haben, die Bilanz aufzubessern?
Der Sticker auf dem Album jedenfalls tut so, als sei die Singleauskopplung „Emma“ bereits ein notorischer Hit. Hierbei handelt es sich um ein etwas verstörendes Liebeslied, das Moustaki für die britsche Schauspielerin Emma Thompson geschrieben hat. Arrangiert im momentan wieder sehr angesagten Django-Reinhardt-Sound, gesteht Moustaki: „Emma, ich liebe Sie – nicht nur als Frau, sondern auch als Schauspielerin.“ Und die arme Emma Thompson muss die ganze Zeit dazu hilflose Kommentare sprechen wie: „Oh, Georges, was singen Sie denn da? Das ist ja ein richtiges Liebeslied!?“ Wenn es so etwas wie unfreiwillige Ironie gibt, dann hier. Köstlich!
Ähnliche Tendenzen möchte man zunächst auch gerne Charles Aznavour unterstellen, der im Jahre zwei nach seiner ultimativen Abschiedstournee nun doch noch einmal ein neues Album auf den Markt wirft. Der rentnertaugliche Titel: „Je voyage“ (Ich reise). Auf dem Eröffnungsstück, „Lisboa“, klingt der charmante Crooner (er wird bald achtzig!) allerdings seltsam matt und regelrecht etwas jammerig. Womöglich eine augenzwinkernde Reverenz an den Fado? Skepsis ist allerdings angebracht, denn auch auf den folgenden Stücken erreicht seine Stimme nicht die gewohnte Festigkeit. Was nicht schlimm wäre, hätten seine Produzenten den Mut aufgebracht, diese Schwäche nicht überspielen zu wollen. Statt den alternden Aznavour gebrochener, verletzlicher und berührender zu zeigen, mutet man ihm lieber einen pompösen Musicalsound zu („Un mort vivant“) oder lässt ihm durchgehen, mit seiner Tochter Katia das wohl grässlichste Duett seit „Tu t’en va“ aufzunehmen.
Streicht man alles Unnötige und Fehlgeschlagene, bleibt von „Je voyage“ immerhin eine schöne Mini-LP mit vier überzeugenden Titeln, einem Swing, einer Bossa, einem Salsa (über eine anonyme Schlafwagenbekanntschaft) – und eine obligatorische fünfminütige Django-Reinhardt-Verbeugung, Titel: „La critique“. „Während einem vor Lampenfieber die Glieder schlottern“, singt er da so gallig wie nicht ganz unzutreffend, „sitzen sie, ihren Stift im Anschlag, im Dunkeln und warten, dass man einen Fehler macht.“
Hmm, tja, lassen wir das, und kommen zurück zu Juliette Gréco, denn für die hält die Kritik im Moment nur höchstes Lob parat. Und das liegt nicht nur daran, dass ihr durch die Mitwirkung von Benjamin Biolay und Christophe Miossec große mediale Aufmerksamkeit sicher ist. Die meisten Kompositionen auf „Aimez-vous“ stammen wie schon seit Jahrzehnten von Grécos Ehemann Gérard Jouannest; Biolay und Miossec haben vor allem eine Hand voll Texte beigesteuert. Woher rührt also der aktuelle Erfolg Grécos, wenn das Team fast unverändert ist?
Eines der erfreulichsten Phänomene der Comebackplatten von Salvador bis Gréco ist die Ehrerbietung der jüngeren Musiker gegenüber den Altstars. Hier wird niemand zu zwanghafter Aktualität genötigt, eher schon handelt es sich um einen heimlichen Wettbewerb, wer für die Klassiker des Chansons den klassischsten Titel schreibt. Und das kann nur funktionieren, wenn man sich auf deren besondere Qualitäten besinnt. Und das ist bei Gréco ohne Frage die Intimität ihres Vortrags.
Schon immer beherrschte sie die Kunst, einem unentwegt ins Ohr zu tuscheln, zu raunen und zu hauchen, dass einem ganz blümerant werden konnte. Im Lauf der Jahre hat sich ein Hang zum herrischen Ton hinzugesellt, der einen wunderbaren, manchmal aber auch etwas mutwilligen Kontrast bildet. Anders als bei ihren Konzerten oder ihrem letzten Studioalbum „Un jour d’été et quelques nuits“ aus dem Jahr 1998 wird wird diese auftrumpfende, theatralische Geste auf „Aimez-vous“ fast vollständig gebändigt, weshalb das Album über weite Strecken klingt, als sei es bereits vor vierzig Jahren, auf dem Gipfelpunkt von Grécos Popularität, aufgenommen worden. Zumal ihre Stimme über all die Jahre fast gar nicht gealtert ist.
Da macht es gar nichts, dass gelegentlich auch das unvermeidliche Akkordeon wieder ausgepackt wird. Denn so individualbetreut man sich beim Hören dieses Albums fühlen kann, hat der Verdacht, auf ausgelatschten Touristenpfaden geführt zu werden, erst gar keine Chance. Wie ging doch gleich noch diese Verbeugung?
REINHARD KRAUSE, 42, ist taz.mag-Redakteur