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"Front" am Hamburger Thalia TheaterDas Grauen des Krieges

„Front“, eine Koproduktion des Hamburger Thalia Theaters mit dem NT Gent, bringt in vielen Stimmen auf die Bühne, was im Ersten Weltkrieg Soldaten an der Westfront aufschrieben.

Pazifist muss Weltkrieg spielen: Steffen Siegmund in Luk Percevals "Front". Bild: Krafft Angerer

HAMBURG taz | Dass er die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei, ist ein Gemeinplatz. Umso weniger ist der Erste Weltkrieg, der ab 1914 der europäischen Fortschrittseuphorie ein jähes Ende setzte und die grausamen Seiten der Industriegesellschaft offenbarte, noch im kollektiven Gedächtnis. Wogegen 100 Jahre später nun allerorten angearbeitet wird. Auch das Hamburger Thalia Theater etwa widmet dem Kriegsausbruch von diesem Monat an verschiedene Produktionen und Veranstaltungen.

Steffen Siegmund, 22, Schauspieler am Thalia, hat sich während der Schulzeit das letzte Mal mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt. Und hat das Nazi-Regime und den Zweiten Weltkrieg sehr viel präsenter. Siegmund spielt mit in der Inszenierung von „Front“, die der belgische Regisseur Luk Perceval zusammen mit den Dramaturgen Christina Bellingen und Steven Heene konzipiert hat: eine „Polyphonie“ aus Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, Henri Barbusses autobiografischem Roman „Le Feu“ sowie Zeitzeugenberichten über den Krieg an der belgischen „Westfront“.

Polyphonie ist dabei durchaus wörtlich gemeint: In der deutsch-belgischen Koproduktion – das Thalia Theater kooperiert mit dem NT im belgischen Gent –, schon vor Premiere zum diesjährigen Edinburgh International Festival eingeladen, wird Deutsch, Flämisch, Französisch und Englisch gesprochen.

Perceval, den Spezialisten fürs Menschliche und den menschlichen Schmerz, interessieren weniger die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge, die dazu führten, dass ein tödliches Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand zu einem Krieg führte, der 17 Millionen Menschenleben forderte. Wie schon in seiner mehrfach ausgezeichneten Fallada-Adaptation „Jeder stirbt für sich allein“ geht es Perceval um die Situation der einfachen Leute: Es sind die Soldaten auf den belgischen Schlachtfeldern, die in „Front“ zu Wort kommen. Die tragische Rolle Belgiens ist im deutschen Bewusstsein kaum verankert: Ausgerechnet in jenem neutralen Nachbarland im Westen wurde der Kampf am brutalsten geführt.

„Schmerz und Todesangst“

Oscar van Rompay vom NT Gent spielt den jungen, idealistischen Soldaten Emiel Seghers, der erst an einer Kriegsneurose erkrankt und später an der Front umkommt. Der Schauspieler hält den Ansatz, das Leid des Einzelnen zu untersuchen, für die beste Möglichkeit, um die Schrecken des Krieges zu erfassen: „Wir haben zur Vorbereitung für die Inszenierung auch Originalschauplätze besucht“, erzählt van Rompay, „alte Waffen in der Hand gehabt oder Uniformen angezogen. Aber das hat mich nicht halb so beklommen gemacht wie die Texte. Die Situation der Soldaten damals ist uns völlig fremd, aber wie sich Schmerz und Todesangst anfühlen, kann jeder nachempfinden.“

Steffen Siegmund, der in „Front“ Zeitzeugenberichte vorträgt, empfindet gegenüber den autobiografischen Texten eine besondere Verantwortung: „Bei vielen Theatertexten geht es um das Spiel, aber hier geht es um die Worte, um die Sprache. Wie oft wird alles ironisiert, zerlacht, oder veralbert? Ich kenne das noch aus meiner Schauspielklasse. Mir ist es wichtiger, eine Sache zu vertreten, und zwar so ehrlich und wahrhaftig wie möglich.“

„Ambivalenter Idealismus“

Siegmund und van Rompay fühlten die Diskrepanz zwischen dem Enthusiasmus und der Überzeugung, mit der die oft gerade mal Volljährigen in den Krieg zogen – und deren totaler Desillusionierung. „Viele dieser Soldaten waren naiv und idealistisch“, sagt van Rompay. „Das Erste, was sie von der Welt kennengelernt haben, war der Krieg. Die älteren Soldaten hatten ein Leben, in das sie zurückkehren konnten, mit Haus, Frau und einem Beruf. Aber diese jungen Menschen hatten nichts, auf das sie sich freuen konnten.“

„Dieser Idealismus war natürlich auch total ambivalent“, so Siegmund. „Die Soldaten waren in einem sehr nationalistischen und militärischen Geist erzogen worden. Denen wurde ja schon in der Schule eingebläut: Ihr seid die eiserne Jugend, ihr müsst für das Vaterland einstehen. Ich habe den größten Respekt vor der Überzeugung und dem Aufbegehren, das in den Texten deutlich wird. Aber dann fragt man sich: Wofür eigentlich?“

Besonders berührt hat den überzeugten Pazifisten Siegmund die Geschichte eines deutschen Arztes, der nach Belgien gerufen wurde, um dort bei einer Geburt zu helfen, und der danach über die Absurdität schreibt, Geburtshelfer zu sein, wenn 40 Kilometer entfernt reihenweise belgische Soldaten abgeschossen werden.

Van Rompay erzählt vom Waffenstillstand an Weihnachten, wenn die verfeindeten Seiten für einen Abend zusammenkamen. Das Leiden des Krieges nicht als Abstraktes zu zeigen oder als zu häufig gesehenes Bild im Fernsehen zu zeigen, sondern als etwas, was dem Zuschauer nahe geht: Vielleicht gelingt’s auf der Theaterbühne.

■ Premiere: Sa, 22. März, 20 Uhr, Hamburg, Thalia Theater. Nächste Vorstellungen: 23., 29. + 30. 3.

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