Friesenmusical: Winnetou im Marschenland
Er spielt nur eine Nebenfigur, aber auf der Cuxhavener Sommer-Freilichtbühne ist Pierre Brice der unangefochtene Star. Mit alten Indianer-Geschichten hat "Ein Traum von Freiheit" von Christian Berg und Konstantin Wecker dabei wenig zu tun.
Er kann machen, was er will. In Fernseh-Vorabend-Soaps auftreten oder auf einer Freilichttheaterbühne in einer norddeutschen Kleinstadt. Wer noch mit Karl-May-Schmökern, aber auch schon mit Bravo-Starschnitten aufgewachsen ist, wird in diesem Mann stets nur den legendären Apachen-Häuptling Winnetou erkennen - selbst wenn Pierre Brice sein Hirschleder-Kostüm gegen ein Wams aus Sackleinen eintauscht. Oder den Blick durch monströse Brillengläser gen Horizont wendet. Sein Skalp, in den Karl-May-Filmen stets eine Perücke, glänzt nicht mehr so blau-schwarz, aber Kinnpartie und die Furche über der Nasenwurzel zerstreuen jeglichen Zweifel: Winnetou ist nach Cuxhaven gekommen, wo er bis zum 8. August beinahe täglich auftritt.
Das "historische Familienmusical", das der Cuxhavener Theatermacher Christian Berg und seine Regisseurin Melanie Herzig hier auf die Bühne gebracht haben, hat rein gar nichts mit Indianern oder dem fernen, wilden Westen zu tun. Vielmehr geht es um einen spätmittelalterlichen Stoff mit einer ordentlichen Portion Lokalkolorit: um die so genannten Wurt-Friesen, die vor mehr als 500 Jahren im Elbe-Weser-Dreieck siedelten und dabei immer wieder gegen die bischöfliche Herrschaft des Bistums Bremen aufbegehrten. Angeführt wurden sie von einem jungen Mädchen.
Eine Art Jeanne dArc ist diese Jungfer, im Volksmund "Tjede Peckes" genannt und in der Cuxhavener Inszenierung von der Rheinländerin Nicole Behnke gespielt. Tjede nimmt den Widerstand in die Hand, hält der nahenden bischöflichen Streitmacht die Friesenfahne entgegen - und fällt schließlich bei einem blutigen Scharmützel im Wremer Tief, ein paar Kilometer von Cuxhaven.
So weit der Plot des Musicals "Der Traum von Freiheit - Tjede, Heldin des Nordens", das am Donnerstag uraufgeführt wurde. Liedermacher Konstantin Wecker, der seit Jahren mit Christian Berg zusammen arbeitet, hat die Musik beigesteuert. Auch das hymnische "Friesenlied", das von Aufbruch erzählt und vom Entschluss, das Joch der Unterdrückung ein für alle Mal abzustreifen: "Freiheit ist nicht nur ein Traum", schallt es da durch den Cuxhavener Schlossgarten, und immer, wenn der letzte Ton des Refrains verklungen ist, kommt Pierre Brice ins Spiel.
Im Herzen, so stehts in seiner Vita, sei der inzwischen 81-jährige Schauspieler stets ein Konservativer gewesen - aber irgendwie auch ein Grüner, wenn es um Umwelt, Menschenrechte oder Frieden geht. In Cuxhaven übernimmt Brice in der Rolle des "Wanderers zwischen den Welten" streng genommen nur den Part eines Erzählers, einer Nebenfigur innerhalb der Inszenierung.
Tatsächlich aber ist er auf der Bühne der unumstrittene Chef - und dann, mit einem Mal, tatsächlich die Reinkarnation des Helden aus Jugendtagen: Erinnert, mit unüberhörbarem französischen Akzent, im Tonfall von Häuptling Seattle an "unsere Mutter Erde". Und ermahnt das Publikum noch im Nachsatz, auch ja "alle Wesen der Welt zu respektieren". Auf das nie und nirgendwo Krieg herrsche. Geschliffenere - und pädagogische wertvollere - Sätze hätte auch Karl May seinem "edlen Wilden" nicht in den Mund legen können.
Doch wie passt das im Theaterstück eigentlich alles zusammen, der Winnetou-Mythos und die Legende von den Wurtfriesen, das blumige Pathos und die fast schon sprichwörtliche Wortkargheit der Küstenbewohner? Nun, Bergs "Familienmusical" geht es nicht um den Anspruch, die Geschichte von Tjede Peckes aus historisch-kritischer Sicht zu erzählen. Im Mittelpunkt steht das Theatervergnügen - und da sorgen gerade solche Stilbrüche für den Charme.
Wie schon in früheren Produktionen - "Jim Knopf", "Pinocchio", oder "Dschungelbuch" - reibt sich Schauspieler, Autor und Co-Regisseur Christian Berg auch im "Traum von Freiheit" an den Großen und Mächtigen dieser Welt, an ihren Regeln und Normen. Diesmal bekommen Kirche und Klerus ihr Fett weg, und für einen auf Bischof Mixa und die Missbrauchsvorwürfe fällt "Krischan" aus seiner Rolle: dem Knappen des "Weltenwanderers" Brice.
Eine Art Eulenspiegel gibt der Cuxhavener an der Seite des prominenten Kollegen, und er geizt dabei nicht mit ironischen Karl-May-Anspielungen: "Wieder so eine bekloppte Rolle. Da kann ich ja gleich den Sam Hawkens spielen!" Jüngeren und ganz jungen Zuschauern zuliebe schlüpft Berg in ein Drachenkostüm - um den Preis, dass die dramatischen Momente des Tjede-Stoffes im Cuxhavener Schlossgarten auf ein paar Augenblicke begrenzt bleiben.
Was auch daran liegen mag, dass es der Bösewicht der Friesen-Story - Bischof Christopher von Bremen (James B. Wood) - nicht leicht hat: Ganz oben in der Gunst des begeisterten Premierenpublikums rangierte Pierre Brice, dessen Gastspiel in der norddeutschen Provinz aber auch Fragen aufwarf. "Braucht der das Geld?", wisperten zwei Zuschauerinnen noch während der Vorstellung.
Nach offizieller Lesart gibt es einen anderen Grund für das schauspielerische Intermezzo im niedersächsischen Marschenland: Ein Versprechen soll dahinterstecken, das Jungregisseur Berg dem Winnetou-Darsteller einst hinter den Kulissen der Segeberger Festspiele abrang: "Irgendwann machen wir mal was zusammen", soll der Hauptakteur schließlich gesagt haben. 22 Sommer sind seit damals vergangen, aber egal. Winnetou, Pardon, Pierre Brice hat Wort gehalten.
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