: „Freundliche Mittelmacht“
Anpassung an die USA? Im Gegenteil: Der deutsche Kanada-Experte von Bredow meint, die USA könnten ein „bigger Canada“ werden
taz: Herr von Bredow, nach George W. Bushs Wiederwahl wollen einige Amerikaner das Land Richtung Kanada verlassen. Warum wollen die Amerikaner nicht nach Mexiko auswandern?
von Bredow: Mexiko hätte zumindest den Vorteil, dass es dort im Winter nicht so kalt wird und dass man als Amerikaner dort relativ billig leben kann.
Im Ernst, warum also Kanada?
Es geht um eine politische Manifestation. Die Ziele, für die die demokratischen Anhänger im US-Wahlkampf eingetreten sind, sehen sie in Kanada teilweise schon verwirklicht. Und wenngleich Kerry seine künftige Politik auf manchen Gebieten so vorstellte, dass sich in Kanada leichte Besorgnis breit machte, so kann man doch sagen, dass sich viele Elemente der Außenpolitik, der Sozial- und der Gesundheitspolitik im Programm von Kerry geradezu kanadisch ausnahmen.
Woher kommt diese Attraktivität kanadischer Politik?
Kanada ist in der Tat für alle diejenigen in Nordamerika besonders attraktiv, die sich an den höheren kanadischen Steuersätzen nicht stören, die aber auf sozialstaatliche Hilfe, etwa bei der ärztlichen Betreuung, angewiesen sind. Viele Medikamente kosten in Kanada nur halb so viel wie in den USA. Es gibt regelrechte „Medikament-Fahrten“ von Seniorenclubs in den amerikanischen Randstaaten südlich der Grenze.
Das erklärt noch nicht, woher das gute Image kommt …
Kanadas Image in der Welt wird in der Hauptsache von seinem außenpolitischen Auftreten bestimmt. Und das wird geprägt von Multilateralismus, dem Anbieten guter Dienste, einer starken Betonung der Rolle internationaler Organisationen und besonders der Vereinten Nationen. Kanada wird überall auf der Welt als freundliche Mittelmacht wahrgenommen, und die kanadische Diplomatie war klug genug, dieses Image nach Möglichkeit nicht zu beschädigen.
Was ist der Hauptunterschied zwischen den USA und Kanada?
Nun, die USA sind eine Weltmacht, Kanada ist eine Mittelmacht. Allerdings kommt noch etwas anderes hinzu: Die USA haben sich mittels der Amerikanischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts als „Neue Welt“ konstituiert, mit einem gewissen missionarischen Anspruch. Kanada verblieb noch bis in das späte 19. Jahrhundert, ja eigentlich bis 1945, im politischen Orbit Großbritanniens. Aus diesen historisch-kulturellen Differenzen haben sich eine ganze Reihe politischer Unterschiede zwischen den beiden nordamerikanischen Staaten entwickelt. In Kanada gibt es im Übrigen seit vielen Generationen zwei verschiedene Haltungen gegenüber dem südlichen Nachbarn: Die einen wollten sich so eng wie möglich an die USA anschließen und die anderen wollten sich immer von den USA abgrenzen und haben die nationale und die kulturelle Eigenständigkeit Kanadas als wichtigstes Ziel.
Könnte man Kanada mit seinen sozialstaatlichen Errungenschaften als das bessere Amerika bezeichnen?
Nein. Kanada ist ein Land, in dem sich das politische System, die Demokratie, das nationale Selbstverständnis über viele Generationen hinweg auf andere Weise entwickelt haben, als es beim südlichen Nachbarn der Fall war. Und keinesfalls könnte oder wollte Kanada jemals die Rolle in der Welt einnehmen, die die USA heute innehaben. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wenn sich die Weltgestaltungsmöglichkeiten der USA einmal erschöpft haben, könnten sie vielleicht in mancher Beziehungen zu einem „bigger Canada“ werden. Aber das ist reine Spekulation. INTERVIEW: M. LÜNSTROTH