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Freundlich-friedliches Headbanging

■ Erstmals mit original ökologisch abbaubaren Plastikbechern. Ansonsten wenig Neues unter der dänischen Sonne: Das Roskilde-Festival 1994

Alle Jahre wieder, Anfang Juli, darf man sich erinnern. An den beißenden Geruch von Lagerfeuern. An die Fahnen, die an überlangen Stecken vor den Bühnen geschwenkt werden, damit sich die gemeinsam angereisten Grüppchen wiederfinden können. An die Lachen aus Urin, die sich allabendlich an sämtlichen Bretterwänden bilden, so daß No Means No sich bemüßigt sahen, einen Song den rivers of piss zu widmen. Manche Dinge ändern sich nie.

Andere schon, wenn auch nur langsam, zumindest in Roskilde. In den Duft, der von den kleinen Feuerchen aufsteigt (die offiziell zwar verboten sind, aber von der Polizei geduldet werden), mischten sich dieses Jahr erstmals die Reste von ökologisch korrekten Plastikbechern. Verbrannt bei einer Temperatur von über 800 Grad enstehen aus den Einwegbehältnissen einzig Sauerstoff und Wasser. Nur: Lagerfeuer erreichen selten eine solche Hitze. Also lösen sich die Becher in einen fies stinkenden Rauch auf, der zum diesjährigen Festival gehörte wie die Bärte zu ZZTop.

Als die am Sonntag abend spielen, ist das Gemeinschaftserlebnis schon fast beendet. Danach zerstreut sich die Menge aus modernen Menschen, die in der Masse den Ausweg aus der Vereinzelung gesucht hat; in der milden Freundlichkeit des Festivals von Roskilde hat der Einsame wieder einmal ein paar zehntausend andere gefunden, die der Einsamkeit ebenso drastisch zu Leibe rücken wollten.

Wie in einem Mikrokosmos wird sichtbar, mit welchen Reflexen die Krankheit außer durch exzessiven Alkoholkonsum bekämpft wird: Der Drang zur Mobilität führt zu herdenartigen Bewegungen von Konzert zu Konzert, Bierstand zu Bierstand, zum Zelt und wieder zurück. Jeder, aber auch jeder scheint permanent in Bewegung, zu viel gibt es zu sehen, zu viel zu verpassen, und ist der Weg noch so weit, es gibt immer eine Erfahrung, die nicht vermißt werden möchte. Ein Syndrom, das auch diesen Sommer wieder ausführlich in den Zügen Europas von gerade Wahlberechtigten mit Inter-Rail-Karte ausgelebt werden wird.

Es ist in Roskilde immens wichtig, einer Gruppe anzugehören — und sei sie noch so unscharf definiert. Die bereits erwähnten Fahnen beziehen nur den engsten Kreis ein, die allgegenwärtigen Symbole aus Baseballkappen und Band-T-Shirts schaffen erst das wahre Gemeinschaftserleben: Nein, ich bin nicht allein, da gibt es noch Hunderte von anderen bekennenden Sepultura-Fans. Ganz nebenbei sind die T-Shirts noch ein prima Ersatz für ein vergessenes Programm, denn die Mobilität bekommt so ein Gesicht, die Völkerwanderung ein Ziel, der Konzertbesuch wird zur Landnahme vor der Bühne.

Genau dieses Kanalisieren der Besucherströme ist unverzichtbar für ein Festival, das immer weiter wächst. Beim allerersten Roskilde- Festival 1971 spielten fast ausnahmslos dänische Bands für 10.000 Menschen. Diesmal wurden erstmals über 80.000 Eintrittskarten verkauft. Bei einem kalkulierten Break-even-point von um die 50.000 wird wohl ein üppiges Sümmchen übrigbleiben für die sozialen Projekte, zu deren Gunsten das Festival nun schon im 24. Jahr von Tausenden ehrenamtlicher Helfer auf die Beine gestellt wird. Das Publikum wächst auch deshalb immer weiter, weil die Festival-Leitung es ablehnt, die Kartenanzahl zu begrenzen: Andere Veranstalter mußten erfahren, daß ein fehlendes Ticket kaum jemanden abhält. Und einige tausend vor den Toren würden mehr Probleme schaffen als einige tausend zuviel innerhalb. Deshalb kommt jeder rein, der zahlen kann, doch das Limit scheint jetzt erreicht, im nächsten Jahr wird das Gelände vergrößert. Vielleicht wird es sogar eine neue, siebte Bühne geben.

Ein zusätzliches Ritual findet auf der alljährlichen Abschlußpressekonferenz der Festivalleitung statt. Wieder einmal war dieses Roskilde das so far biggest and so far best. Angeblich gibt es jedes Jahr weniger Schlägereien und ähnliche Vorfälle bei steigender Besucherzahl. Aber tatsächlich verwundert es immer wieder, wie

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friedlich die auf engsten Raum gepreßten, vornehmlich skandinavischen Massen miteinander umgehen.

Zwar hat sich das Programm von Roskilde seit den Hippie-Anfängen radikal zum vielleicht innovativsten Festival Europas gewandelt, treten neben den wenigen großen Zugnummern (wie Peter Gabriel und Aerosmith in diesem Jahr) vornehmlich Rockbands an der Grenze zwischen Independent- und Major-Deal auf (Metal von Paradise Lost, Velvet-Epigonentum von Yo La Tengo oder etablierter Hardcore von Henry Rollins), zwar findet sich ein ambitioniertes Worldmusic-Programm, aber die friedlich bekiffte Atmosphäre wurde über die Jahre bewahrt; selbst beim zweitägigen „HeeDay“ ist sie zu spüren, dem Dancefestival, wo eine der kleineren Bühnen beim Auftritt der ehemaligen Sugarcubes-Sängerin Björk fast aus den Nähten platzt.

Was natürlich auch an der Organisation liegt: nervenaufreibende Verspätungen gibt es so gut wie nicht, die Polizei und die Helfer sind immer freundlich. Und auch wenn sich die Alt-Hippies im Publikum gut getarnt haben und bestenfalls noch durch ihre über die Jahre angesammelten Eintrittsbändchen ums Handgelenk identifizierbar sind, bekennt sich doch zumindest die Festivalleitung fast schon rührend demonstrativ zu den hehren Idealen einer untergegangenen Zeit: „Unser Ziel ist es nicht, noch größer zu werden. Unser Ziel ist es, dem Publikum das bestmögliche Erlebnis zu bieten.“

Daß das Publikum in seinem alltäglichen Leben die Werte der 70er Jahre penetrant auf den Kopf stellt, hindert es nicht daran, ganz 70er-like experiences zu sammeln, die sich von denen ihrer Eltern nur mehr durch die Musik unterscheiden. Und so gerät selbst der Auftritt der wegen ihres „Nigger“- Songs äußerst umstrittenen schwedischen Rap-Metaller Clawfinger zum fröhlich-friedlichen Headbanging in der mittäglichen Hitze einer Sonne, die freundlich zusieht und sich wundert, daß in einem Vierteljahrhundert sich so wenig ändern kann. Thomas Winkler

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