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Fressen, spinnen, sterben

Drei junge Menschen erwecken im kalabrischen Bergdorf San Floro die alte Kunst der Seidenproduktion

Es ist ein langer Weg, bis aus den mohnkorn­großen Eiern der ­Seiden­raupe fließende Stoffe werden

Aus San Floro, Verena C. Mayer (Text und Fotos)

Sie essen. Rund um die Uhr. Drei Mal täglich geht Domenico Vivino daher zu ihnen, mit einer Schubkarre voll langer, dicht bewachsener Zweige. Die Kleineren bekommen nur die Blätter, zu Schnipseln gehackt. Bei den Größeren legt Vivino einfach den ganzen Ast hinein. Der 37-Jährige geht zu einem Lautsprecher, der im Eck des schummrigen Raumes steht. Die laute italie­nische Schlagermusik verstummt.

„Hörst du sie?“ Domenico Vivino beugt sich über die Holzplatte. Wie ein leiser Nieselregen klingt ihr Knabbern. Reihe um Reihe futtern sich die Raupen durch die Blätter. Nach wenigen Stunden ist vom Grün nichts mehr übrig. Der Nachschub für die hungrigen Tiere wächst unterhalb des Hauses, in einem Tal mit sanft abfallenden Hängen: mehrere tausend Maulbeerbäume. Früher waren sie überall in Kalabrien zu finden, denn einst war die Region für ihre Seide berühmt. Die ist – man vergisst es leicht in unserer hochindustriellen Zeit – ein Naturprodukt, das auf der Arbeit kleiner Tiere beruht: der Larven des Seidenspinners, besser bekannt als Seidenraupen. Und die ernähren sich ausschließlich von Maulbeerblättern.

Vermutlich gelangte das Wissen um die Seidenproduktion im 9. Jahrhundert nach Kalabrien, als die italienische Stiefelspitze zum byzantinischen Reich gehörte. Besonders rund um die heutige Hauptstadt Catanzaro entwickelte sich das Handwerk. „La città della seta“ wurde sie genannt. Die Stadt der Seide.

20 Kilometer südlich von Catanzaro liegt das Bergdorf San Floro, Heimat von Domenico Vivino und seinen Kindheitsfreundinnen Giovanna Bagnato und Miriam Pugliese. Anders als viele ihrer Altersgenossen haben die drei ihre Heimat nicht verlassen beziehungsweise sind hierher zurückgekehrt. Ins kalabrische Hinterland, wo die Orte wie Adlerneste auf Bergrücken hängen, wo die Straßen so steil und kurvig sind, dass sich selbst die Italiener an die vorgegebenen 30 km/h halten, und die Einwohnerzahlen so niedrig, dass die Dörfer „wie große Familien“ sind.

Miriam Pugliese steht auf der Piaz­za von San Floro und scherzt mit Salvatore, einem der wenigen hundert Einwohner des Ortes. Bevor sie ihre Geschichte erzählt, gibt es erst mal einen caffè in der kleinen Bar, wo sich am Sonntag das halbe Dorf versammelt hat. Den Wert der engen Gemeinschaft habe sie erst in der Ferne erkannt, meint Pugliese. Mit Anfang 20 ging sie nach Berlin. Es war die Zeit, als dort Guerilla Gardening ein großes Ding wurde und viele Großstädter ihr Interesse an der Natur entdeckten, daran, eigene Lebensmittel anzubauen oder eigenen Honig zu erzeugen. Das gefiel auch Pugliese, und so war da bald diese Sehnsucht nach ihrem Heimatdorf, in dem sie – als Kind nach Mailand gezogen – die schönsten Sommer verbracht hatte.

„Da ist doch nix!“, meinten ihre Eltern. Miriam Pugliese und ihre Mitstreitenden aber ließen sich nicht entmutigen. Sie entdeckten ein Projekt, das Regionalpolitiker in den 90er Jahren angestoßen hatten: 3.500 Maulbeerbäume wurden damals gepflanzt, an der Piazza im Ort ein kleines Museum eingerichtet. Man wollte an die alte Tradition anknüpfen, die mit der Industrialisierung, den politischen Umbrüchen und der Landflucht in Vergessenheit geraten war. Als jedoch die Regionalregierung wechselte, wurde das Projekt nach nur wenigen Jahren fallen gelassen. Die Bäume verwilderten.

Pugliese sperrt die knarzende Tür des Museums auf. 2014 bekam das Trio die Erlaubnis, das Gebäude und die fünf Hektar Anbaufläche zu übernehmen. Nido di Seta nannten sie ihr Unternehmen, Seidennest. „Als wir hier angefangen haben, war das Haus, ein altes Schloss, in einem desolaten Zustand.“ Heute sind die schummrigen Räume mit Schaukästen und -tafeln bestückt. Von der Decke baumeln dekorative Seidenfäden in unterschiedlichen Farben und Stärken, im Eck steht ein alter Webstuhl. „So einen gab es vor fünfzig Jahren in jedem Haus.“

Aus den selbst gewebten Stoffen fertigten die Frauen Bettwäsche und Kleidung. Miriam Pugliese zeigt auf ein dunkles Kleid. „Das ist ein Hochzeitskleid. Die bestanden oft aus zwei Teilen“, erklärt sie. Aus einem einfachen Rock und einem aufwendig verzierten Oberteil, das von mehreren Familien geteilt wurde. Obwohl Seide damals verbreitet war, war sie kostbar.

Es ist ein langer Weg, bis aus den mohnkorngroßen grauen Eiern der Seidenraupe erst Larven, dann Kokons, daraus dann Garne und schließlich fließende Stoffe werden. „Einmal geschlüpft, fangen die Larven sofort an zu fressen. In nur 28 Tagen legen sie das 50.000-Fache an Gewicht und Größe zu!“, sagt Miriam Pugliese. Sie lacht. „Ich weiß noch, wie ich hier in San Floro vor fünfzehn Jahren das erste Mal welche gesehen habe und sie auf mir rumgekrabbelt sind.“ Einige Wochen lang träumte sie von Riesenwürmern.

Das junge Team fing ohne Vorkenntnisse an, aber sie lernten schnell. Ein paar alte Bewohner von San Floro führten sie in das Handwerk ein. Später reisten Vivino, Bagnato und Pugliese nach Indien, Thailand und Mexiko, in die Zentren der traditionellen und modernen Seidenproduktion. Sie halfen mit und sammelten viel Wissen. Auch darüber, wie sie es nicht machen wollen. Zum Beispiel mit chemischen Mitteln färben. „Schrecklich“, meint Pugliese – für die Arbeiter, die knietief in der Brühe stehen, und die Natur, in der das Abwasser ungefiltert entsorgt wird. Bei Nido di Seta verwenden sie nur natürliche Farben, also Schalen, Blätter oder Wurzeln.

Miriam Pugliese im „Kinder­zimmer“, der Aufzucht­station

Produziert wird die Seide direkt neben den Plantagen, die man über einen unbefestigten Waldweg erreicht. Zwischen den Maulbeerbäumen wachsen Holunder, Orangen und Feigen. Was sich heute als Bilderbuchidyll präsentiert, war zu Beginn verwildert und von Müll übersät. In den einst verfallenen Häusern sind ein kleiner Shop und die Produktionsstätte untergebracht. Und natürlich die Aufzuchtstation, das „Kinderzimmer“, wie Miriam Pugliese es nennt.

Sie geht in den warmen Raum, wo ihr Kollege Domenico Vivino gerade das Mittagessen verteilt. „Fühl mal“, meint sie und nimmt einen der weißen Würmer auf die Hand. Sie sind, ja, seidenweich und klein wie ein Fingernagel. Wenn sie nach einem knappen Monat ausgewachsen sind, messen sie bis zu fünf Zentimeter. Dann beginnen sie, sich einzuspinnen. „Unter dem Mund haben sie zwei Container. Aus einem kommt der Faden, aus dem anderen eine Art Kleber.“

Nach drei Tagen werden die fertigen Kokons, die an weiße Erdnüsse erinnern, eingesammelt und in speziellen Öfen getrocknet. Die Seidenraupe stirbt. „Ansonsten würde sie ausbrechen und den Kokon zerstören.“ Und ihn damit für die Produktion hochwertiger Seide unbrauchbar machen, denn das Besondere ist ja, dass der Kokon aus einem einzigen Faden besteht, der, kaum vorstellbar bei der Größe, 1.000 bis 1.500 Meter lang ist.

Weil die Raupen sterben müssen, wird die Seidenproduktion von Tierschützern kritisiert. Pugliese kennt den Vorwurf. Sie antwortet, noch bevor die Frage kommt. Auch in freier Wildbahn wäre ihr Leben kurz, erklärt sie. „Sobald sie sich gepaart haben, sterben sie.“

Ein alter Webstuhl, wie es ihn vor fünfzig Jahren in jedem Haus in Kalabrien gab

Um den Kleber, das Sericin, zu lösen, werden die getrockneten Kokons in heißem Wasser eingeweicht. Anschließend wird der Faden aufgerollt, was bis zu 45 Minuten dauern kann. Wird dieser gewoben, hat man Rohseide. Sie ist steifer als jene, die man aus edlen Boutiquen kennt. Für solch feinen Stoffe muss das Gewebe erst gewaschen werden, um sämtlichen Kleber zu lösen. Es folgen das Verzwirbeln der feinen Fäden, das Färben, das Weben, schließlich das Schneidern. Rund 60 Kilo Seidengarn fertig Nido di Seta pro Jahr. „Damit sind wir der größte Produzent in Europa“, sagt Pugliese.

Mittlerweile ist auch die Modewelt auf sie aufmerksam geworden. Mit Unterstützung einer italienischen Luxusmarke haben sie eine Spezialmaschine angeschafft, auf der sie hauchfeine Seidenfäden für Haute-Couture-Stoffe produzieren. Ihr Herz aber schlägt für die traditionelle Handarbeit. „Ein Baum ohne Wurzeln hat keinen Stand“, sagt Pugliese. Mittlerweile arbeitet Nido di Seta mit acht lokalen Handwerkerinnen zusammen. „Wir wollen nicht nur altes Wissen erhalten, sondern auch Arbeitsplätze schaffen.“ Insbesondere für Frauen, die in Kalabrien lange finanziell abhängig waren.

Auf der anderen Seite des Tals haben sie ein kleines Lokal eröffnet, in dem sie mit Maulbeeraromen angereicherte Gerichte anbieten: Es sind vor allem die Beeren des Baumes, die zu Sirup (im Spritz) oder Konfitüre (zum Käse) verarbeitet werden. Ein paar Blätter sind auch dabei, allerdings nur als aromatische Beilage zum geschmorten Schwein. Als Hauptgericht werden sie einzig den nimmersatten Raupen serviert.

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